Sturmflut
Freitag, 26. Dezember 2014
Ins Neue
Ich überlege, ob ich bilanzieren soll in diesem Jahr. Ich hatte es in den letzten Jahren doch immer irgendwie getan, auch wenn ich es nicht jedes Mal mit "Jahresbilanz" überschrieben hatte.

Es ist schon irgendwie seltsam. Ein willkürlich gesetzter Zeitpunkt bringt uns dazu, uns über Anfang und Ende auseinanderzusetzen und über das, was vor und was hinter uns liegt. Ich kann mich dem nicht entziehen, auch wenn es eigentlich völlig gleichgültig ist, ob man diese Bilanz im März, August oder Dezember vornimmt, ob man das ganze Jahr bilanziert oder nur eine einzelne Stunde.

Kategorien wie "scheiße" oder "wunderbar" bilden ohnehin nur einen winzigen Teil der Realität meines Jahres ab. Dazwischen und rundherum gab es so viele Details und Ereignisse, dass ich mich kaum an alles erinnern kann. Welten liegen zwischen dem Gestern und dem Heute, und trotzdem hat sich manches auch gar nicht verändert. Es lässt sich nicht in eine Liste fassen, auch wenn ich für mich selbst natürlich Schubladen aufziehe, Wünsche hege und Änderungen ersehne.

Ein Ereignis hat mich in den letzten Wochen besonders berührt, und das war eine Kleinigkeit. Sehr ichbezogen. Für Außenstehende vielleicht unbedeutend.

Nach der Berufsschule und vor dem Besuch im Spielzeugladen neulich blieb mir ein bisschen Zeit zum Vertrödeln. Der besagte Spielzeugladen liegt eher im Außenbereich meiner Stadt, rundum kein schönes Café, kein gemütliches Eckchen. Nur die hinreichend bekannte Mischung aus Wohn- und Gewerbeflächen - Aldi, Spielothek, Burger King, McDonalds, hier noch eine Tankstelle, da noch ein Autohandel, drüben der Lidl und dann Reihe an Reihe wohlgeordneter, rotgeklinkerter Vorstadt-Einfamilienhäuser. Wo halte ich mich also auf, wenn ich nicht draußen im Regen herumstapfen will? Mir fiel nichts besseres ein, als mich in den beinahe leeren Burger King zu setzen, einen Pappbecher Kaffee und etwas Fleischloses zu bestellen und mir die Zeit damit zu vertreiben, durch die Glasfassade auf die vierspurige Ausfallstraße zu starren.

Im restauranteigenen Radio lief irgendein ruhiger, klavierlastiger Song, der sich durch die Eigenschaft auszeichnete, mir nicht auf die Nerven zu gehen. Ich versalzte die Pommes aus einem kleinen Papiertütchen, das ich noch vom letzten Ikea-Besuch in meiner Umhängetasche hatte und kippte den gar nicht mal so schlechten Kaffee hinterher. Und während ich da so saß, in dieser ganz und gar belanglosen Umgebung mit diesem ganz und gar belanglosen Essen und der ganz und gar belanglosen Musik, da spürte ich etwas, das mir leider in meinem letzten Jahr eher zu selten geschah. Ich wurde mit mir selbst kongruent.

Ein besserer Begriff fällt mir nicht ein für diesen Zustand. Es scheint mir dann, als käme mein derzeitiges Ich mit allem, was ich sein kann und was ich bin, endlich wieder zur Deckung. Als fügte ich mich selbst wieder zusammen aus meinen abgesplitterten Schatten, meinen wie Seidenpapier durch die Gegend wehenden Einzelteilen. Als gelänge es mir ohne Mühe und Absicht, mich wieder einzufangen.

Dieses ziellose Starren aus der Wärme hinaus in den Regen, das absichtslose Herumsitzen, das war nicht einfach "wunderbar". Es war nur schlicht und ergreifend richtig. Es fühlte sich passend an. Der Genuss des Moments ohne das gigantische Aber, noch etwas zu müssen, zu wollen, zu sein - das ist, was ich mir für 2015 öfter wünsche. So oft es geht.

Natürlich waren da im Jahr 2014 große Glücksmomente. Die Beendigung der Arbeitslosigkeit. Die Begeisterung über die Rosetta-Mission. Die Nachmittage am Baggersee, schwerelos im Wasser treibend. Der Gatte in meinem Arm, an dessen Duft ich mich nicht sattriechen, in dessen liebe Augen ich nicht lang genug schauen kann. Liebe Worte lieber Menschen.

Aber das Jahr ist irgendwie sehr zügig und insgesamt wenig einprägsam an mir vorbeigerauscht. Ich war sehr beschäftigt mit den Anforderungen an mich selbst, was bedeutet, dass ich auf eine sehr verkrüppelte Art mit mir selbst befasst war. Mit dem Genügen, mit dem Funktionieren, mit Erwartungen und der unendlichen Angst, ihnen nicht gerecht werden zu können. Umstände, die meinen depressiven Wurzeln neue Nahrung liefern, und das war oft gar nicht gut in der letzten Zeit. Dazu der Zustand völliger Erschöpfung, der aus all dem resultiert.

Mir wurde besonders gegen Ende diesen Jahres zum ersten Mal richtig einprägsam klar, wie Angst und Stress mein bisheriges Leben dominiert haben. Es ist in all der Zeit so normal für mich gewesen, nachts wachzuliegen oder aufzuschrecken und gegen das Hämmern meines Herzens anzukämpfen, dass mir bislang nicht auffiel, wie sehr eingeübt das ist. Tschumm, tschumm, tschumm, tschumm. Du. Bist. Hier. Falsch. Es. Wird. Schief. Gehen. Tschumm. Tschumm. Tschumm. Vertraut ist dieses Gefühl. Vertraut aus den Nächten in meiner Studentenbude, in denen ich die Lichtstreifen der Straßenlaterne an der Decke anstarrte und versuchte, das Kochen des Adrenalins in meinem Körper zu ignorieren. Gegen das schließlich oft nur ein Glas Wein half. Vertraut die Sonntagsnachmittagsangst, die mich seit meiner Schulzeit mehr oder weniger begleitete und sich so verselbständigt hat, dass sie sich einstellt, ganz gleich, ob es einen Grund dazu gibt oder nicht. Morgen ist Montag. Was wird kommen? Werde ich wieder scheitern (egal, mit was)? Tschumm, tschumm, tschumm - das Blut rauscht in meinen Ohren.

Irgendwann ist man ausgequetscht, man hält das nicht jahrzehntelang durch. Ich bin reduziert auf diesen Teil von mir, der nur aus Anspannung besteht und aus offenen Augen und Ohren und empfindlicher Haut. Sensoren, denen kein Detail entgehen darf, weil ich sonst sterben könnte. Werde! Ich werde sterben!

Wenn ich dann kongruent werde, dann ist das wie eine Erlösung. Meine ausgegliederten Geister, die so randvoll sind mit Eigenheiten, Eigensinn, körperlichem Wohlbehagen, schöpferischer Kraft, Widersprechen und Rebellion, die schön sind und starrsinnig und kratzbürstig und weich und warm und stark, die treten in mich zurück und ergänzen mich zu dem Ganzen, das ich wirklich bin. Ich will mich immer so fühlen, so zuhause. Mehr davon.

Es nützt mir nur ein wenig, die Gründe für mein Unbehagen, meine Angst, meinen Stress und mein innerliches Gehetztsein zu kennen. Es würde mir nicht helfen, den Verantwortlichen (mir selbst inklusive) einen fetten Arschtritt zu verpassen. Ich suche den Schlüssel zur eigenen Nutzlosigkeit. Zur Freiheit davon, stets und in jeder Situation für mich und die mich umgebenden Menschen einen Nutzen bringen, eine Funktion erfüllen zu müssen.

Dieses Ziel unterscheidet sich in nichts von den Hoffnungen der zurückliegenden Jahre. Das weiß ich jetzt, weil ich es benennen kann. Der Wunsch wird dringlicher. Ich habe nämlich das Gefühl, dass meine Energie weniger und die Luft unerträglich dünn werden wird, wenn es mir nicht gelingt, zu mir zu kommen. Niemand sonst kann mir das geben, was ich da brauche - auch das neue Jahr nicht.

Die Schritte ins Neue mache ich jeden Tag, oder ich mache sie nicht. Am Leben bleiben. Mehr noch, leben.

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