Sturmflut
„Dann leg ich mich hin und leb nicht mehr...“
Hochgeschossen und blass siehst Du aus auf den Fotos, fast mehr wie ein Junge denn ein Mädchen, ungeheuer schmal. Du bist weiß wie die Wand. Es ist nichts mehr an Dir, was man landläufig als niedlich, kindlich, mädchenhaft beschreiben würde, aber eine richtige Jugendliche warst Du auch noch nicht – erst später, auf den anderen Bildern, als Du Dir die Haare wachsen ließest und man Dir Dein Unbehagen, auf Fotos zu sein, noch mehr ansieht.

Ich mache mich auf die Suche danach, was wohl nicht gestimmt hat mit Dir, mein Mädchen. Du wirktest nicht wie das blühende Leben. Ich würde mich gern noch einmal zurückbegeben in der Zeit und Dich fragen. Könntest Du es mir sagen?


Ich würde mich auf Deine Bettkante setzen und Dich fragen:
„Wie geht es Dir?“
Aber vielleicht würde ich Dich auch nur in den Arm nehmen, Dich an mich drücken, Dir durchs Haar streichen. Du siehst so verhuscht aus, so wenig real, beinahe durchscheinend. Ich würde Dir gern mehr Substanz, mehr Stärke verleihen. Meine Erinnerung an Dich damals ist genau so blass wie Dein Gesicht auf den Fotos. Ich weiß, Du fühltest Dich nicht wohl in Deiner Haut, Du hättest sie am liebsten ausgezogen wie einen Pullover. Du kriegtest Migräne, kotztest bei Wanderungen auf die Waldwege, hattest Beine wie Streichhölzer.

In Dein Tagebuch schriebst Du, damals, 1989, mit 13:
„Manchmal fühl ich so eine Leere, da weiß ich nichts mehr zu tun, nichts mehr zu weinen oder zu lachen, nichts mehr zu leben. Dann leg ich mich hin und leb nicht mehr.“

Du lebst noch. Ich bin stolz auf Dich – mein Mädchen!