Sturmflut
„Schwanz ab“ reloaded:
Postdemokratischer Volkszorn
Gerade noch war ich gefesselt und auch ein bisschen fremdstolz angesichts der Art und Weise, wie die norwegische Bevölkerung mit dem Verbrechen, dass Herr Breivik an ihr begangen hat, umging. Keine erhöhte Terrorwarnstufe, Rosen statt Rachegelüste und die sehr schlichte Erkenntnis, dass Taten wie diese der Preis der Demokratie sind. Ich habe das sehr bewundert und tue es noch. Zumal überall in der Welt von freiheitlich-demokratischen Werten gesprochen wird, in den wenigsten Fällen aber hinter all dem (auch missionarischen) Eifer eine entsprechende Haltung steht. Da boten die Reaktionen auf die Attentate in Norwegen eine Ausnahme, die wie Balsam auf die Seele wirkte.

Dann tauchte Herr Gäfgen wieder im öffentlichen Bewusstsein auf. Stimmt, das war der, der den Bankierssohn Jakob von Metzler entführt und umgebracht hat – sein Motiv war Habgier, denn er wollte seinen offenbar recht aufwändigen Lebensstil weiterführen, um nicht vor seinen Studienkollegen dumm dazustehen. Im darauffolgenden Verhör wurde Gäfgen dann durch Polizeibeamte mit Gewalt gedroht, falls er nicht den Mund aufmachen würde, was den Aufenthaltsort Jakobs betraf. Diesen „Verfahrensfehler“, für den die verantwortlichen Beamten auch bestraft wurden, wusste Gäfgen für sich zu nutzen. Er klagte, und heraus kam, was die Bild-Zeitung gestern mit dem Stichwort „Schand-Urteil“ betitelte: Dem Mann wurden 3000 Euro Entschädigung zugesprochen. Die sich dann auch wieder flugs in Luft auflösten, weil er ohnehin noch 71.000 Euro Prozesskosten-Schulden bei der Staatskasse hat. Gäfgen hat von seiner Klage also finanziell nicht wirklich profitiert.

Was mir in dieser Angelegenheit reichlich quer im Hals hängt, ist der Volkszorn, der sich angesichts dieses Urteils nun wieder mal zuverlässig bemerkbar macht. In einer Diskussion neulich sagte mir jemand, er sei davon überzeugt, die Mehrheit der Deutschen sei der Ansicht, Gäfgens Klage sei vollkommen unberechtigt gewesen und er hätte auch diese 3000 Euro nicht zugesprochen bekommen dürfen. Aber ist das tatsächlich so ein Schand-Urteil, wie meine Lieblingszeitung schreibt? Irgendwie scheint ein Teil der Öffentlichkeit (von dem ich – wahrscheinlich vergeblich – hoffe, er ist nicht so groß) davon überzeugt zu sein, dass die Grundrechte des Herrn Gäfgen vor dem Hintergrund seiner Tat nicht mehr viel wert seien. Im Gegenteil, seine Strafe sei auch noch viel zu mild, die Todesstrafe müsse in Deutschland wieder her, und es ginge nicht an, dass man jemanden auch noch dafür bezahle, dass er einen Jungen auf dem Gewissen habe. So gelesen im Internet, dass den Menschen, geschützt durch die Anonymität, zu allerhand stumpfen Aussagen zu animieren scheint, wie auch Frau Behrens neulich sehr treffend beobachtet hat. Von differenziertem Denken weit und breit keine Spur.

Mir stößt extrem sauer die Bigotterie in dieser Art von Äußerungen auf. Plötzlich wird die Welt eingeteilt in Monster, die durch das, was sie sind, jegliche Rechte verlieren sollen und in rechtschaffene, nette kleine Staatsbürger, die immer genau beurteilen können, was richtig und was falsch ist. Die „Rettungsfolter“ wäre im Fall Gäfgens also berechtigt gewesen, weil er ein fieses Monster ist? Und damit wird ihm dann auch gleich das Recht aberkannt, sich gegen Entwürdigung und Drohung zu schützen (die in meinen Augen das sind, was sie sind, egal welcher Mensch davon betroffen ist).

Der Zweck heiligt also in den Augen mancher auf jeden Fall die Mittel, und das bringt mich zum zweiten Aspekt der ganzen Geschichte, der mich über alle Maßen anwidert: In diesem Fall war das Opfer ein kleiner Junge. Unschuldig, sein Leben noch vor sich habend, ahnungslos. Das an sich ist eine sehr, sehr schlimme Sache, und das Leid, das hinter dieser Begebenheit liegt, wird für jeden Außenstehenden schwer zu erfassen sein. Aber ich denke, das Ausmaß des Volkszorns macht sich zu einem erheblichen Teil auch daran fest, was ich insgeheim für mich selbst den „Knut-Effekt“ nenne. Das Opfer entspricht dem Kindchen-Schema und eignet sich daher für die Medien ganz besonders gut dazu, in der Bevölkerung die Tränendrüsen zu aktivieren und ebenso zu Hasstiraden anzustacheln. Das lässt sich immer besonders gut feststellen, wenn irgendwo ein Kind verschwindet (was wirklich schrecklich ist – nicht, dass ich hier missverstanden werde). Wäre das Opfer ein kleinkrimineller Drogendealer gewesen, ein fieser Mafiosi oder ein unsympathischer, versoffener Strolch, dann wäre das Leben, das es da zu retten galt, der breiten Öffentlichkeit vielleicht keine „Rettungsfolter“, keine Gewaltandrohung wert gewesen.

Wenn man also die Rechte des Einzelnen einzuschränken beginnt – im Zweifel auch, um ein Leben zu retten – wer erhält dann die Entscheidungsgewalt darüber, wann das angebracht wäre? Hängt es vom Sympathiegrad des Opfers, von dem des Täters ab? Diejenigen, die so laut schreien, Gäfgen habe seine Grundrechte nicht länger verdient, unterschätzen die Möglichkeiten zur Willkür, die in einem solchen Vorgehen liegen. Was, wenn die oder der Verdächtige dem Polizeibeamten unsympathisch ist? Wenn jemand verdächtigt wird, der jemand anderem politisch nicht in den Kram passt und dann an der entsprechenden Stelle nur Gelder zu fließen brauchen? Was, wenn der verhörende Beamte einfach nur einen schlechten Tag hat oder sich von der Presse unter Druck gesetzt fühlt und diesen Druck am mutmaßlichen Täter auslässt? Die Rechtfertigung, das sei getan worden um ein Leben zu retten, die ist schnell vorgeschoben. So oft sie auch in der Tat gerechtfertigt sein mag, sie braucht es nur ein einziges Mal nicht zu sein, und schon sitzen wir mitten im Polizeistaat. Und deshalb steht auch einem Herrn Gäfgen zu, sich gegen solche Methoden zu Wehr zu setzen.

Volkszorn ist etwas völlig anderes als Mitgefühl für die Opfer. Volkszorn entsteht meiner Meinung nach aus eigenen Ohnmachtsgefühlen, aus dem Gefühl heraus, von etwas Diffusem, Unfassbarem bedroht zu sein. Dass die Boulevardpresse (und leider nicht nur sie) Monster regelrecht erschafft, um die eigene Auflage zu erhöhen, ist ja zumindest auf der Grundlage des Gewinnstrebens noch logisch nachzuvollziehen. Aber wozu braucht der Leser diesen ungehaltenen, beinahe schon schmerzvollen Stellvertreterzorn? Dass der Vater Jakob von Metzlers vor Wut kochen mag, das ist noch nachvollziehbar, aber wieso auch Karl-Heinz von nebenan? Überall auf der Welt sterben tagtäglich Kinder elendig des Hungers. Diese Probleme sind menschengemacht, und doch entzünden sie nicht nur ansatzweise den Hass auf eine Weise, wie es diese vermeintlichen Monster, all die bösen Triebtäter und Kinderschänder vermögen. Der finstere Unmensch, der mitten unter uns lebt und jederzeit zuschlagen kann, der ist es, der den Durchschnittsbürger zum wüten und hassen bringt, und ab und an bekommt er ein Gesicht. In diesem Fall das des Herrn Gäfgen. Aber solche Monster sind Phantasiebilder. Sie sind in meinen Augen die Projektionen der eigenen inneren Boshaftigkeit auf äußere Gestalten, die sich dafür anbieten. In dem Moment, in dem man das absolute Böse im anderen sieht, im Mörder, im Vergewaltiger, da kann man selbst ein Heiliger sein. Da kann man Menschenketten bilden und Lichter anzünden und der bessere Mensch sein, der, dem so etwas nicht im Traum einfallen würde.

Ich bin froh, (noch) in einem Land zu leben, das eine unabhängige Rechtsprechung besitzt. Ich bin froh, dass in diesem Land nicht die Geschädigten, sondern Richter über einen Täter zu Gericht sitzen, dass man befangene Personen nicht an der Urteilsfindung beteiligt und dass man hierzulande glücklicherweise noch Rache von Strafe und Sanktion trennen kann (was manche sogenannte Demokratie bis heute nicht gebacken bekommt). Ich bin froh, dass die Regeln bislang noch gelten, auf die man sich hier mal geeinigt hat.

Was mich wirklich beunruhigt und anwidert ist, dass die Stimmen, die in solchen Fällen nach Todesstrafe und anderen archaischen Methoden schreien, immer lauter werden. Offenbar wird die Unsicherheit der Menschen und das Gefühl von Bedrohung so groß, dass es vermehrt auf diesem Wege kompensiert wird. Mich beängstigt das viel mehr als die wirklich extremen Randpositionen, denn diese Stimmen scheinen aus der Mitte der Bevölkerung zu kommen. Man traut „denen da oben“ nicht mehr zu, angemessen urteilen zu können über Recht und Unrecht. Man sieht sich selbst als „kleiner Bürger“ auf verlorenem Posten und findet sich in einer Welt wieder, in der unfaire Maßstäbe ohne jegliche Grundlage in der Lebenswirklichkeit gelten. Ich finde das gefährlich.

Das ist genau der Punkt, an dem eine Bevölkerung verführbar wird durch große, starke und charismatische Führertypen, die ihr vermeintlich simple Lösungen für diese Probleme versprechen. Unsere Gesellschaft tendiert immer mehr dazu, das Versprechen von Sicherheit der Freiheit vorzuziehen. Überwachung, Kontrolle, Strafverschärfung – als hätten wir noch nicht genug davon! So gesehen befinden wir uns tatsächlich in einer Post-Demokratie, denn die von der Bevölkerung gewählten Volksvertreter sind offenkundig nicht mehr in der Lage, den aktuellen Gegebenheiten in einer angemessenen Form Rechnung zu tragen. Regiert werden wir längst nicht mehr nur von den Regierenden, uns regieren vor allem die Umstände. Die Unsicherheit des Einzelnen entsteht aus seinem Verlorensein in einer globalisierten Welt, seinem eigenen Gefühl von Wertlosigkeit in einem Umfeld, in dem alles mit Geld bemessen wird, in seiner Machtlosigkeit gegenüber den Einflüssen und Strömungen, die er nicht mehr durchschaut. Wir glauben nicht mehr daran, unser Umfeld und unseren Umgang miteinander selbst gestalten zu können. „Die da oben machen ja doch, was sie wollen!“

Wir fragen nicht mehr, in was für einer Gesellschaft, in was für einer Welt wir leben wollen, weil wir uns gelebt, gesteuert, bedrängt fühlen. Bedrängt von den bösen Moslems. Bedrängt von den Triebtätern, die unseren unschuldigen Kindern hinter jeder Ecke auflauern. Bedrängt von den Jugendlichen, die einfach keine Manieren mehr haben. Bedrängt von Rechten und Linken, von unserem Nachbarn, der auch irgendwie komisch ist... Wer mit Abwehr beschäftigt ist, ist wenig kreativ-konstruktiv.

Na also schön, führen wir doch die Lynchjustiz wieder ein, lassen wir jedem die Freiheit, Menschen, die ihm nicht in den Kram passen, in Ku-Klux-Klan-Manier mit der Mistgabel durch die Nacht zu jagen. Führen wir doch die Todesstrafe wieder ein – wenn dabei der eine oder andere unschuldig um die Ecke gebracht wird, ist das halt der Preis, den man für die Sicherheit zu zahlen hat. Überwachen wir uns gegenseitig, dann braucht's der Staat nicht zu tun. Drohen wir Leuten Gewalt an, wann es uns angemessen erscheint – nur so ist gewährleistet, dass unsere Kinder noch ein goldiges Leben vor sich haben. Stellen wir diejenigen mit der Macht doch über das Gesetz, dann werden wenigstens mal schnelle und effiziente Entscheidungen getroffen! Bringen wir den anderen um, damit er uns nicht umbringt. Werfen wir den ersten Stein, damit es niemand anders tut - sicher ist sicher.

Willkommen zurück in der Steinzeit.