Sturmflut
Verdrehte Welt
Folgt man den Aussagen diverser Politiker beinahe jeder Richtung in den Medien, wie denn die Wirtschaftskrise bzw. europäische Schuldenkrise (oder welchen Titel man ihr denn auch immer sonst noch so verleihen mag) in den Griff zu bekommen sei, dann fällt bei aller Unterschiedlichkeit eines auf: Die Menschen, um die es im Endeffekt gehen sollte, stehen nicht im Fokus, sie kommen lediglich als Wirtschaftsfaktoren vor. Das ist eigentlich nur konsequent, wenn es um die innere Logik des Kapitalismus geht, und dennoch ist es tragisch.

Während die einen einen "knallharten Sparkurs" und "Haushaltskonsolidierung" von allen möglichen Staaten (z.T. auch im eigenen) fordern, hätten die anderen gern, dass man die Volkswirtschaften nicht "kaputtspart", sondern im Gegenteil doch bitte durch Investitionen noch Anreize zum Wirtschaftswachstum setzt. Richtig, beim "Kaputtsparen" fallen die Schwächsten durchs Netz, denn gestrichen wird gern vor allem im sozialen Sektor. Junge Arbeitslose, kranke und alte Menschen leiden als erste darunter. Andererseits: Anreize zum Wirtschaftswachstum? Woher, wie, und vor allem, warum? Noch mehr Wachstum ist doch bald nicht mehr machbar, und mit dieser Forderung werden Grenzen ignoriert.

Der Mensch in der ganzen Maschinerie taugt nur noch in seiner Funktion als Konsument und Produzent. Das stößt mir immer wieder sauer auf. Wir fragen uns in all dem Kuddelmuddel nicht mehr, wie wir leben wollen, sondern nur noch, wie wieder mehr Konsum, wieder mehr Produktion, wieder mehr Vertrauen der Märkte, wieder mehr Wachstum zu machen sei. Wohlstand, Wachstum und Konsum als Bedingungen für die Glückseligkeit in einem Land stehen wie eherne Gesetzmäßigkeiten fest gemauert in der Erden. Ist doch klar, dass wir alle immer, immer mehr haben wollen müssen sollen, denn dann geht es uns ja schließlich allen besser, oder nicht?

Immer wieder stehe ich mit einem gewissen Entsetzen in Läden und vor Schaufenstern und frage mich bei so manchem Produkt: Wer braucht eigentlich so ein Ding? Denn für manches fällt einem nicht einmal mehr ein Name ein. Gut, das Streben nach Umsatz und Gewinn ist eine kräftige Triebfeder für den Fortschritt, für die Entwicklung der Technik. Nicht zu unterschätzen. Und was dabei herauskommt, wenn beispielsweise ein Staat versucht, festzulegen und zu verordnen, was der Mensch eigentlich zu brauchen hat, haben wir auch gesehen. Das geht nach hinten los. Aber mal ehrlich, wie haben wir es nur geschafft, unsere Äpfel in Achtelchen zu schneiden, bevor es diesen unglaublich praktischen Entkerner-Stückeschneider gab? Wie haben nur all die Generationen von Kindern Greifen und Fühlen gelernt ohne Greif- und Fühlspielzeug? Wie kriegte man einen Grill angeheizt ganz ohne einen elektrischen Grillanzünder? Eine Menge von dem Schnickschnack, der heute produziert wird, deckt nicht mehr die Bedürfnisse der Menschen, sondern weckt sie erst, raffiniert und manchmal subtil, manchmal holzhammermäßig angeheizt von der Werbung. Manches Produkt kommt so originell daher, dass man es unbedingt haben muss, dass man seinen Mangel an praktischem oder gar auch nur ästhetischen Nutzen gar nicht bemerkt. Reihen um Reihen zahlloser Shampoos für zahllose Bedürfnisse glänzen uns an. Der Verbraucher wird ausgetrickst und beschummelt, hier kommt noch ein bisschen Erdöl dazu für das "samtweiche Hautgefühl", da ein bisschen Silikon für den Glanz, und wieder ist der Konsument geködert. Fernseher gehen kaputt, weil bewusst schlechtere Bauteile verwendet werden, damit bald wieder nachgekauft werden muss.

In dem ganzen Konzept steckt ein Dreher, der uns meistens nicht einmal bewusst ist: Der Mensch in seiner Eigenschaft als Verbraucher und Konsument befeuert die Maschinerie, die nicht mehr für ihn da ist. Er ist für die Maschinerie da. Er ist Zielgruppe und selbst Ware, ist als "human ressource" ein Posten in der Rechnung und doch als Bestandteil der diffus bleibenden "Märkte" psychisch unberechenbar, ein Rad im Getriebe und dabei selbst ausschlaggebend, nur längst nicht mehr so sehr Herr seiner selbst wie er meint. Der Mensch wird gebraucht und verbraucht. Und so ist in dieser ganzen Krisenrechnerei, in der sich gestritten wird um Sparkurs oder Wachstum, der Mensch ebenfalls nicht im Mittelpunkt. Es wird nicht gefragt, was geschehen muss, damit es den Menschen wieder besser geht. Der Staat erfüllt nicht seinen Auftrag, unter Zuhilfenahme eines Regelkonsens sich dem Wohl seiner Bürger bestmöglich zu nähern, was auch einen Wandel des Begriffs "Wohl" mit einschließen müsste. Statt dessen verbeißt er sich in die Maxime, Wohlstand sei mit Wohl gleichzusetzen und fürchtet nichts so sehr als einen Mangel desselben. Im Grunde ist das ewiggestrig, denn die Verwurstung des Menschen als Arbeitstier, Stimmvieh und Konsument geht schon längst an menschlichen Bedürfnissen vorbei. Dennoch fürchtet die Politik nichts so sehr wie das Misstrauen der Märkte, das Abwandern von Betrieben ins Ausland, die Stagnation oder gar Rezession.

Ich bin ehrlich, ich weiß keine Lösung. Mir fällt nur auf, dass man wesentliche Fragen nicht mehr stellt. Was braucht ein Mensch, um sich seelisch, geistig, körperlich entwickeln und entfalten zu können? Was braucht es zu gelungener sozialer Interaktion? Wie möchten Menschen miteinander wohnen und leben? Wie müsste ein Lebensumfeld gestaltet sein, damit es für Menschen lebenswert ist? Was ist an den Bedürfnissen alter Menschen anders als an denen junger? Was brauchen Männer und Frauen als Menschen, gemeinsam? Was brauchen wir alle, und wie lässt sich bewerkstelligen, dass niemand unter Existenznöten leiden muss? Letztere Frage ist besonders im Hinblick darauf wichtig, dass zungunsten unseres Wohlstands (nicht unseres Wohls - was die Sache erst recht sinnlos macht!) andere Menschen solche Nöte erleiden müssen und nicht selten sogar mit ihrem Leben bezahlen.

Alles, was wir betrachten, unterliegt inzwischen dem Diktat des Monetären. Umweltschäden werden monetär beziffert, weil es uns nicht gelingt, einen Verlust anders als in Ziffern zu begreifen. Bildung wird darauf ausgerichtet, wie gut sich die Bildungskonsumenten nach ihrem Abschluss in das Arbeitsleben einfügen können, und auch die sogenannten "soft skills" oder "social skills" dienen letztlich der Anpassung an ein Arbeitsumfeld, das größtmögliche Produktivität erreichen soll. Sozialwohnungen werden als unangemessen groß für die Bedürfnisse der sie bewohnenden Menschen erachtet, weil auch der arbeitsmäßig nutzlose Mensch in erster Linie einen Kostenfaktor darstellt - schließlich muss er essen und schlafen. Nahtlos passt sich in diesen Zusammengang Herr Röslers Aufforderung an die "Schlecker-Frauen" ein, sich um eine "Anschlussverwendung" zu bemühen (gefunden übrigens bei "Neusprech" - vielen Dank!!). Darin verbalisiert sich die ganze Menschenverachtung eines Systems, das Menschen allein nur noch benutzt.

Ein Problem ist, dass wir das Undenkbare nicht mehr denken können. Alles führt uns schließlich immer wieder zurück zu Kosten und Nutzen, Plus oder Minus unterm Strich. Ich fühle mich hilflos angesichts dieser Entwicklungen. Die Umstände sind wenig ermutigend. Ich mag trotzdem nicht aufhören, mich daran zu stoßen. Ich schäme mich manchmal angesichts der Tatsache, die perfekte Tomate aus der Kiste gesucht, den zwanzigsten Nagellack gekauft und die Maschine weiter angekurbelt zu haben. Aber immerhin, da ist noch ein Gefühl. Was geht anders? Ich hoffe, ich höre nicht auf, mich das zu fragen. Es wäre so verführerisch bequem.