Sturmflut
Montag, 14. Oktober 2013
Brechreiz
Hier im Dorf tummeln sich die Bibelleser (aber natürlich nicht nur hier). Ich frage mich immer wieder, was sie treibt. Vermutlich kann ich das als nichtreligiöser Mensch nicht nachvollziehen. Dass den Zeugen Jehovas ein gewisser missionarischer Drang eigen ist, das kennt man ja noch. Aber vom vielbeklagten Schwinden des Christentums kann auch nicht die Rede sein. Wenn man allein mal das Stichwort "christliche Blogger" googelt, erhält man Treffer über Treffer über Treffer - und zwar keine solchen, die sich kritisch mit dem Phänomen auseinandersetzen, sondern eben die Blogs von Menschen, die sich als Christen verstehen.

Klar kann auch ein Christ das Bedürfnis haben, zu bloggen. Wir leben in einem freien Land, da kann jeder seine Meinung in die Weltgeschichte hinausblasen, wie er will. Darf ich ja auch, zum Glück. Das heißt aber noch lange nicht, dass mir auch gefallen muss, was da gebloggt wird. Das fängt an beim noch recht harmlosen Posten von Kirchenkalender-Fotos und persönlichen Gottes- und Glaubenserfahrungen, wobei ich ja überhaupt keine Bauchschmerzen habe. Wenn sich einer berührt fühlt und das unbedingt auf öffentliche Weise verkünden will, kann er das ja machen. Das ficht mich nicht an. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich dann allerdings die öffentlich schreibenden Christen-Fundis, bei denen mir regelmäßig der Kamm schwillt. Da wird mir sowas von schlecht.

Erst gerade habe ich erfahren, dass sogar das berüchtige "kreuz.net" unter anderer URL wieder online ist - ja, richtig, das waren die Schweinebacken, die nach dem Tode von Dirk Bach das Wort von der Homo-Hölle publik machten, in der der arme Mann jetzt brenne. Dass er das vermutlich nicht tut, tut der Menschenverachtung nicht den geringsten Abbruch. Der homo- und islamophobe, rechtslastige Haufen ist also wieder online. Wo, das darf gern jeder selbst rausfinden, aber es ist nicht sonderlich schwer, das sei gesagt.

Ich würde mich so gern trösten mit dem Gedanken, dass die Mehrheit der Christen nicht so ist und dass diejenigen, die so sind, keinerlei Macht in unserem Land und der Welt haben. Aber das ist wohl ein bisschen naiv.

Ich frage mich, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen Radikalität und dem Bedürfnis nach Öffentlichkeit. Zumindest habe ich das Gefühl, dass vieles von dem, was im Netz von Christen zu lesen ist, extreme Positionen umfasst. Es ist wohl vielleicht ein bisschen wie bei anderen Phänomenen auch: Von den netten, gemäßigten, entspannten Christen liest man nichts, nicht so viel oder eben nicht so viel Scheiß. Aber von dem Scheiß, den man aus christlicher Feder so liest, bekomme ich Brechreiz. Ich weiß, ich müsste das nicht lesen. Aber das hieße für mich auch, kurzsichtig ein Problem auszublenden.

Viele Posts haben mit Geschlechterfragen zu tun, und das ist ja eh immer ein rotes Tuch für mich. Erst neulich durfte ich hier im Bloggerdorf (zitierterweise, aber die Dame sammelt halt sehr eifrig anderswo) lesen, wie erschreckend es sei, dass sowohl Männer als auch Frauen sich nicht mehr an Gottes Willen hielten und nicht länger der von ihm vorgesehenen Ordnung zwischen Mann und Frau folgen.

In klaren Worten bedeutet das, dass der Mann hierarchisch betrachtet unter Jesus und über seiner Frau positioniert wird. Um das zu untermauern, bemüht man die (von Männern geschriebene) Schöpfungsgeschichte, derzufolge halt das Weib als Ergänzung zum Menschen und für ihn geschaffen wurde. Weitere Bibelzitate finden sich, anhand derer belegt wird, dass sie sich ihm demütigst unterzuordnen habe, in der Gemeinde die Klappe halten solle und so weiter und so fort... Irgendwie kennt man ja den ganzen Mist, wäre aber nicht auf die Idee gekommen, dass den nochmal jemand reanimiert. Die Frauen, die sich nicht unterordnen wollen, sind diesem Blickwinkel zufolge auch für alles Elend verantwortlich:

"(...) Als da sind Verlust der Mütterlichkeit, gestresste Familien, Überalterung, verunsicherte Männer, verhaltensgestörte Kinder usw. (...)"

Statt dessen sei es doch besser, die von Gott gegebene (und angeblich auch "natürliche") Rangfolge anzuerkennen, denn sie sei zum Wohle aller. Moment mal, zum Wohle aller? Das hieße also, auch zu meinem Wohl, die ich als verblendete, gottesferne, eiskalte und materialistische Atheistin davon natürlich nichts wissen kann? Da liegt unter anderem mein Problem, das treibt mir die Galle in den Hals. Denn wenn sie in eigenen Kreisen Frauen finden, die sich derart demütigen lassen wollen, und noch dazu mit so peinlich fadenscheinigen Argumenten und unter Berufung auf ihren konstruierten Gott, dann sollen sie. Aber wieder mal sind alle, die das nicht erkennen, noch zu beackernder Grund, haben nur Gottes Wort nicht richtig verstanden, falsche Erziehung genossen oder sind gar vom Teufel verführt worden. Da geht mir die Gelassenheit dann doch flöten.

Der schlimmste Feind der Fundibrüder und -schwestern ist der Zeitgeist. Der Zeitgeist ist das Schreckgespenst, das über allem schwebt. Schleichend erodiere er Werte und alles, was einst gut, recht und regelkonform war. Der Zeitgeist sei es, der der "Homo-Lobby" in Deutschland eine geradezu gefährlich zersetzende Macht gebe, und gern spricht man auch mal von einer "Entartung" innerhalb der Kirche, wenn sich einzelne Strömungen dem bösen Zeitgeist offen zeigen. Hassfiguren sind auch die Linken und Grünen, weil sie ja politisch für Dinge einstehen, die Hardcore-Christen gegen den Strich gehen.

Mit ekelerregender Selbstgefälligkeit schreibt diese Art von Christen in die Welt hinaus, was richtig und was falsch ist. Diese Menschen sind dabei arrogant und anmaßend, beurteilen, wer ein Recht auf Existenz, freie Entfaltung, freie Meinungsäußerung hat und wer nicht, wer irregeleitet ist und wie es besser wäre. Sie suhlen sich in ihrer Bessermenschenwelt, dass es nur so schmatzt. Homosexuelle? Sünder, allenfalls Kranke, die um jeden Preis geheilt werden müssen. Eigensinnige, arbeitende, gar kinderlose Frauen? Genderverblendete, entmütterlichte, entmenschlichte, ihrer wahren Stellung und Aufgabe entfremdete Krampf-Feministinnen, die man schleunigst zurück auf den Reproduktionspott zu setzen hat. Abtreibungsärzte? Mörder! Vergewaltigte? Selbst schuld! Frauen, die ihre Sexualität genießen? Verführerinnen, die Männer vom rechten Weg abbringen wollen! Menschen, die Spaß haben, Freude empfinden jenseits religiöser Verzückung, Hedonisten? Schlimme, verweltlichte Egoisten! Nichtgläubige? Kalte Materialisten, perspektivlos, einsam, zwangsläufig traurig, bar jeder Hoffnung.

Es ist einfach nur widerlich, das möchte ich mal gesagt haben. Zu allem kommt nämlich dann noch diese Bessermenschen-Haltung, mit der diese Typen auf ihrem hohen Ross sitzen und über andere urteilen, diese himmelschreiende Bigotterie, dass man sich an die mit eigenem Mund vielzitierten Regeln selbst nicht zu halten braucht. Die kein bisschen Selbstkritik zulässt, sondern immer nur im Namen eines imaginierten Gottes über andere richtet, fußend auf der Interpretation eines uralten, von vielen verschiedenen Menschen verfassten Buches (was schlicht Willkür gleichkommt).

Bei dem ganzen Mist ist es ziemlich egal, ob es tatsächlich einen Gott gibt. Ich bin halt der Meinung, es gibt keinen, und wer an Gott glauben möchte, kann das tun. Aber bei dieser Sorte Christen geht es schon längst nicht mehr darum. Es geht darum, der restlichen Welt vollkommen rückständige Wertmaßstäbe aufzudrücken. Das hat mit dem Wohlbefinden der Menschen, ihrer Persönlichkeit und einem befruchtenden, respektvollen Zusammenleben nichts zu tun. Die aus der Reihe tanzen, sollen korrigiert werden. Die einem Angst machen, werden diskriminiert, unterdrückt, umgepolt, unter Druck gesetzt. Die anders denken und fühlen als man selbst, werden als gefährlich stigmatisiert.

Ich hege die ganz zarte Hoffnung, dass diese Menschen in unserer Gesellschaft nicht wirkmächtig sind. Aber ich fürchte, sie sind es. Wenn schon ihr Geschrei im Netz so laut ist, wie groß ist dann wohl die Dunkelziffer derer, die so ticken? Mich persönlich macht natürlich niemand zum untergeordneten Weibchen. Kein Mensch, der mir den eigenen Kopf, die eigene Entscheidungsfähigkeit, die Eigenständigkeit oder die Interpretationshoheit über meine Gefühle absprechen wollte, wäre in meiner Gesellschaft lang oder gern gesehen. Ich fürchte mich auch nicht davor, dass Freunde oder mein Liebster plötzlich solche Anwandlungen bekämen. Was ich fürchte ist, dass solche Haltungen immer salonfähiger werden, weil die Menschen sich aus Angst vor neuen Herausforderungen (a.k.a. "Zeitgeist") lieber an Althergebrachtem, an Dogmen und starren Regeln anlehnen möchten und diese mit Werten verwechseln. So trägt sich Radikalität in die Mitte der Gesellschaft, ohne dass man es so recht merkt. Was dann aus Andersdenkenden, Anderslebenden wird, mag man sich nicht ausmalen.

Quelle des Zitats: Jörgen Bauer via Bibellese-Blog

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Sonntag, 22. September 2013
Befürchtet, aber trotzdem übel!
Der Ausgang der Wahl, wenn auch wirklich nicht viel anders erwartet, erzeugt mir Übelkeit. Wir werden auch weiterhin das Gesicht der Merkel sehen müssen, weil offenbar zumindest 42 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben, dass die Frau wirklich irgendwas gut gemacht habe. Weiterhin Behäbigkeit und Wohlstandsbauch auf dem Rücken anderer, weiterhin ausgereifter Wirtschaftslobbyismus, auch wenn die Deppen der FDP hoffentlich wirklich draußen bleiben. Weiterhin Mami-Papi-Kind-Politik, weiterhin Ressourcenverheizung auf Kosten der Umwelt, weiterhin Wachstum um jeden Preis. Weiterhin Lügen vom Wohlstand für alle, weiterhin Kürzungen im Sozialbereich und Druck auf die, die sich nicht allein helfen können. Weiterhin Waffenexporte in alle Welt, ungeachtet der Opfer. Zum Kotzen. Zum Kotzen nicht nur Merkel und ihre Bande, zum Kotzen wirklich, dass so viele Leute glauben, das alles wäre gut für uns und hätte Hand und Fuß. Zum Kotzen, wirklich wahr.

Ich hab's versucht, aber zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal werde ich wieder regiert von Menschen, die ich nicht gewählt habe.

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Montag, 16. September 2013
Wie man sich ein Loch ins Knie bohrt
Für mich war's heute eine Neuigkeit, dass hinter Femen ein Mann stand, quasi als Kopf der Gruppe, und dass dieser Mann offenbar ein Chauvi war, wie er im Buche stand. Nachdem ich die Nachricht habe sacken lassen, dachte ich nur: "Ja, das passt!"

Die Femen-Frauen gaben vor der Kamera zu, dass sie es für normal gehalten hätten, von einem Mann angeleitet zu werden. Das sei in der Ukraine noch so. Dass Frauen noch ein Drehbuch brauchen dafür, wie sie protestieren, und dass sie es für nicht fragwürdig halten, dass ein Mann dieses Drehbuch schreibt, das verursacht einen schalen Nachgeschmack. Er hat ihnen offenbar sogar gesagt, was sie sich auf ihre nackten Brüste zu schreiben hätten.

Chapeau, Wiktor Swjatski! Man muss das Maß an Dreistigkeit erst einmal aufbringen, Frauen dahingehend zu beeinflussen, dass sie von sich glauben, sie protestierten, während man selbst lediglich eine Peepshow inszeniert.

Die Frauen dagegen haben sich vorführen lassen. Kann man ihnen ihr fehlendes Bewusstsein vorwerfen? Ich finde schon. Sie haben sich damit so richtig ein Loch ins Knie gebohrt, und weil sie in der Öffentlichkeit als ein wesentlicher Teil des heutigen Feminismus wahrgenommen wurden, haben sie selbigem einen Bärendienst erwiesen.

Ich weiß endlich, warum mir Femen immer so unecht und verdreht vorkam. Mir fiel es schwer, ihre Art der Selbstinszenierung für wirklich glaubwürdigen Protest zu halten. Jetzt passen die Puzzleteile zusammen, es enthüllt sich der Blick eines misogynen Mannes auf seine folgsamen Marionetten. Man möchte kotzen.

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Samstag, 17. August 2013
...und als nächstes die rosa Liste?
Die Züchtung von Feindbildern war schon immer ein erfolgreiches Konzept, wenn es darum ging, Menschen von der eigenen Misere abzulenken. Im Allgemeinen ist die Klage über Werteschwund eine bemerkenswert inhaltslose Angelegenheit, die sich pauschal zur Anwendung auf allerhand Situationen eignet, und das macht sie auch gefährlich. Werte. Die sollen in Schulen wieder den Schülern nähergebracht werden. Die sollen im traditionellen Familiensystem vermittelt werden - da werden klassische Konstellationen gern als Garant dafür betrachtet. Die soll auch der Staat sicherstellen, indem er gesetzlich unterbindet, was Werte angreift.

Da muss man aber erst einmal grundsätzlich definieren, was man unter Werten und möglicherweise auch unter Moral versteht. Es schreien bemerkenswerterweise meist die am lautesten nach Werten und Moral, die sich selbst als Bessermenschen verstehen, die Reinheit, Unschuld und heile Welt verfechten. Hedonismus, materielle Gier, ausufernde Sexualität, zunehmender Egoismus - all dies sind dann Einflüsse, die einen bestehenden Wertekanon angeblich zersetzen. Was das aber für Werte sind, für die man da eigentlich eintreten möchte, darüber wird man lieber nicht präziser.

Postulieren lassen sich diese zersetzenden Kräfte übrigens ganz ohne jeglichen Beleg. Der ist auch nicht erforderlich, denn schließlich kann ja jeder in seinem Alltag beobachten, dass es so ist, oder etwa nicht?

Die Welt wird ja ständig gefühlt fieser, und deswegen muss mal endlich jemand kommen, der die unbequeme, politisch unkorrekte Wahrheit ausspricht: Wir verwildern, wir wissen nicht mehr, wo wir hingehören, und an allem sind die anderen schuld. Diejenigen, die sich nicht kasteien, die sich nicht an Regeln halten wollen, die, die ihren Instinkten, ihrer Lust, ihrem Herzen und Verstand folgen. Wenn das jeder täte! Du meine Güte!

Der britische Schauspieler und Komiker Stephen Fry war schon immer jemand, der mich mit seiner Haltung beeindruckt hat. Auf seiner Internet-Seite hat er nun einen offenen Brief an den britischen Premier und das Internationale Olympische Komitee verfasst, der mir aus dem Herzen spricht. Sport ist in der Tat nicht unpolitisch, nicht unkulturell. Die Olympischen Spiele an einem Ort, in einem Land abzuhalten, das eine bestimmte Bevölkerungsgruppe direkt diskriminiert, freie Rede und Gefühlsäußerungen unter Strafe stellt und Gewalttaten an dieser Gruppe zusieht, ohne mit der Wimper zu zucken, läuft dem Gedanken von Olympia und dem respektvollen Miteinander unterschiedlichster Menschen absolut zuwider.

Zurück zu den Werten. Auch die in Russland propagierten Werte, die die Basis der Gesetzgebung gegen Homosexuelle und Homosexualität bilden, gründen sich auf die oben erwähnten Ansprüche an Moral, Anstand und Unschuld. Homosexualität wird in Russland häufig gleichgesetzt mit Pädophilie, und so meint man, die Unversehrtheit der jungen Menschen durch eine solche Gesetzgebung schützen zu müssen. Es ist wie so oft in der Moraldebatte: Mit dem Scheinargument, es müsse doch auch mal jemand an die Kinder denken, lassen sich alle Anforderungen an ein menschliches Miteinander locker über Bord werfen. Indem man eine (lediglich behauptete) Gefährdung der Kinder in die Debatte mit einbringt, emotionalisiert man in einem Ausmaß, dass wirkliche Argumente keinen Raum mehr haben.

Diejenigen, die die Erhaltung der Werte für sich in Anspruch nehmen und deren Sicherung durch so geartete Gesetze befürworten, richten sie in Wahrheit zugrunde. Werte messen sich dann nicht mehr am Verhalten gegenüber unseren (wie auch immer gestrickten) Mitmenschen, sondern an einem künstlichen Konstrukt aus tradierten, Sicherheit vermittelnden Maßstäben. Die Würde des Einzelnen steht zur Disposition und wird zum exklusiven Recht desjenigen, der sich an diese Maßstäbe hält. Wer sich nicht fügt, wird pathologisiert und abgewertet, mehr noch, er wird zum Freiwild gestempelt, das keine Handhabe gegen erlittenes und noch zu erleidendes Unrecht hat. Was bitte hat das dann noch mit Werten zu tun?

Ein wirklicher Wert ist Respekt gegenüber dem anderen. Ein wirklicher Wert ist verbindende Gemeinschaft, die Betonung des Menschlichen, die Achtung für Gefühle anderer und die Freiheit, zu sagen, was man denkt. Wie empfindlich in Russland auf verletzte Gefühle reagiert wird, wenn es die eigenen sind, das zeigte der Ausgang der Pussy-Riot-Aktion. Dort wurde deutlich, dass die (religiösen und moralischen) Gefühle mancher Menschen mehr wert sind als die anderer. Eine ganze Gruppe von Menschen allein ihrer sexuellen Orientierung wegen zu diskriminieren, einzuschränken, ihnen den Mund zu verbieten und sie vor seelischer und körperlicher Verletzung nicht genau so in Schutz zu nehmen, wie jeden anderen Bürger, das zeugt von extremer Scheinheiligkeit.

Stephen Fry spricht die Sündenbock-Funktion an, die schwule und lesbische Menschen erfüllen, und er verweist meines Erachtens völlig zu Recht auf Parallelen zum Nationalsozialismus. Vermeintliche Eigenschaften einer begrenzten Bevölkerungsgruppe werden als zersetzende Faktoren für das Bewahrenswerte, Hochmoralische, Hehre und Edle betrachtet. Es ist ganz egal, ob man damit die "arische Rasse" meint oder anständige, saubere, familiäre Grundwerte. Jemand anderem den Anstand, die Sauberkeit und Werte abzusprechen, ist nichts weiteres als die mutwillige Stigmatisierung andersartiger Menschen zu dem Zweck, sie zur Zielscheibe für den latent vorhandenen Volkszorn zu machen. Und wer dieses Vorgehen kritisiert, dem wird vorgeworfen, er packe gleich die "Nazi-Keule" aus.

Auch Homosexuellen wird unterstellt, sich auszubreiten wie Parasiten und all das zu unterwandern, worauf unsere Gesellschaft angeblich baue. Russland steht mit dieser Haltung nicht alleine. Eine Leserbriefschreiberin vergleicht im evangelikalen "idea spektrum" homosexuelle Ehen und Partnerschaften mit einer Ehe mit dem Haustier. Da könne man ja auch gleich den eigenen Hund heiraten. Die Äußerungen triefen nur so vor ätzender Polemik. Nicht, dass man nicht wüsste, wes Geistes Kind Menschen sind, die bei Idea oder der "Freien Welt" ihre Meinung zum Besten geben - aber manchmal beschleicht mich der Verdacht, solche Auffassungen könnten gesellschaftsmittiger sein, als man so gemeinhin annimmt.

Letztlich stelle ich mir die Frage, wie schwach wir eigentlich sind, wenn wir tatsächlich mit den Andersartigkeiten der anderen nicht mehr umgehen können. Wieso ruft es so viel Gewalt und Hass hervor, wenn sich Menschen frei entscheiden, wen sie lieben und heiraten wollen? Wieso wird es als Angriff auf Werte empfunden, wenn Männer mit Männern und Frauen mit Frauen Sex haben? Wie wackelig muss denn das Familienbild einer oder eines Konservativen wirklich sein, wenn er glaubt, es könne dadurch zerstört werden? Faktisch ist das nämlich nicht so.

Die ganz subjektive Unsicherheit wird durch solche Gesetze wie dasjenige zum Verbot der "Homosexuellen-Propaganda" gefördert. Sie vermitteln das Gefühl, Schwule und Lesben stellten tatsächlich eine ernste Gefahr dar - sonst wäre ja ein Gesetz auch gar nicht nötig. Damit legitimiert ein solches Gesetz auch Gewalt und Ausschreitungen und provoziert sie gar. Es kanalisiert den diffusen Hass der Bevölkerung gegen alles, was anders ist.

Schlagworte wie "Homosexuellen-Propaganda" oder auch das der hierzulande unter Strengkatholiken mit rechter Gesinnung, Evangelikalen und anderen Verwirrten sehr beliebten "Homo-Lobby" implizieren, dass dort - analog zum "Weltfinanzjudentum" - ganz gerichtete Kräfte am Werk seien, die nichts sonst im Sinn hätten, als bewusst die Jugend zu verderben, den Anständigen zu schaden, die traditionelle Familie und mit ihr die geschlechtliche Fortpflanzung in Frage zu stellen und Werte auszuhöhlen. Diese "Argumente" sind nicht neu.

Freundin I. meinte dazu sehr lapidar, dies sei "history repeating", und sie hat Recht damit. Viel beängstigender noch als das Phänomen an sich ist, dass wir so blind dafür sind. Diejenigen, die dann im Winter nach Sotschi reisen mit der Begründung, bei den Olympischen Spielen gehe es um Sport und nur um Sport, die werden auch die Inszenierung der Spiele 1936 in Deutschland für ein ganz unschuldiges Sportereignis gehalten haben. Jesse Owens durfte dort ja schließlich auch antreten, dem hat ja niemand den Schädel eingeschlagen, oder?

Die Behauptung, Schwule und Lesben könnten ja in Russland ja nach wie vor ungestraft "ihre Dinge treiben" (Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow), verzerrt das Ausmaß der Diskriminierung. Im Gegenteil, Schwule und Lesben werden ihrerseits als Diskriminierer inszeniert und das Gesetz wird damit gerechtfertigt, dass es nicht in Ordnung sei, wenn sie Kindern aggressiv ihre fremden Werte aufzwängten.

Definiert sich also Freiheit nach dem, was einem in den eigenen vier Wänden erlaubt ist, worüber man im privaten Kreis sprechen darf? Nein, ausschlaggebend ist, was an die Öffentlichkeit dringt, denn das bestimmt, wie präsent, wie gesehen und wie akzeptiert man ist. Menschen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, war schon immer ein probates Mittel, sie gesellschaftlich irrelevant zu machen. Eine öffentliche Stimme zu besitzen, bedeutet auch, Macht zu besitzen.

Eine Frau, die zu hause eingesperrt wird und nur unter Begleitung und/oder von Kopf bis Fuß verhüllt vor die Tür gehen darf, hat definitiv nicht die gleichen Rechte wie ein Mann, der darin alle Freiheiten genießt. Selbst dann nicht, wenn es ihr freisteht, hinter der geschlossenen Tür Schleier abzulegen und leicht bekleidet herumzulaufen. Den Juden wurden in Nazi-Deutschland zunächst schleichend die "kleinen" Rechte beschnitten - die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, das Sitzen auf der nicht-jüdischen Allgemeinheit vorbehaltenen Parkbänken. Aber wie nett, dass sie sich doch in ihren eigenen vier Wänden hinsetzen durften, wo sie wollten, oder? Dem Ausschluss folgten Stigmatisierung, Diskriminierung, Vertreibung, Ermordung. Wer den Vergleich für weit hergeholt hält, sollte sich in Erinnerung rufen, dass es einer Umfrage zufolge immerhin 5% der russischen Bevölkerung für angebracht hielte, Homosexuelle zu "liquidieren". Als nächstes dann die "rosa Liste"? Damit man die armen Fehlgeleiteten zumindest einer angemessenen Heilbehandlung zuführen kann?

Der Schoß ist warm noch, aus dem das kroch. Und was da kroch und wieder kriecht, hat mit Werten nichts zu tun. Im Gegenteil, es ist die bewusste Unterminierung von Solidarität, Brüder- und Schwesterlichkeit, Verbundenheit, Freiheit. Sie geschieht zugunsten der Kontrolle der Bevölkerung über die Angst. Biete den Menschen eine Strategie zur Kompensation ihrer Unsicherheiten, und Du wirst ihre Sympathie ernten. Alle anderen Probleme werden vergessen, oder sie werden zumindest nicht Dir angelastet. Es gibt ja einen Sündenbock.

Mich packt zum wiederholten Male das blanke Entsetzen. Gerade erst lernt man, mit dem Herzen zu verstehen, dass es ganz gleich ist, wer wen liebt, so lange er liebt. Gerade lernt man, es als Selbstverständlichkeit und nicht als mutigen Ausnahmefall zu begreifen, wenn sich jemand offen zu seinem Mann oder ihrer Frau bekennt, ganz genau wie Heterosexuelle das auch tun. Gerade lernt man, dass an den Pseudoargumenten über die Zerstörung der Familie nichts dran ist als Hysterie, und dass Homosexualität keine neumodische Strömung ist, sondern nichts weiter als eine Lebens-Variante von vielen anderen. Da schmerzt die kranke Borniertheit erst so richtig, egal, ob hier oder anderswo.

Man möchte Stephen Frys Rat folgen und lachen über die jämmerlichen Akteure in diesem Spiel. Aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken, das Spiel ist zu abscheulich.

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Donnerstag, 8. August 2013
Freiheit von und zu
Die allgemeine Lethargie angesichts immer neuer Details über staatliche Überwachungsmaßnahmen ist etwas, das mich wirklich richtig aufregen kann. Zugleich fällt mir aber auch auf, dass ich dazu noch kein Wort verloren habe, allenfalls in privaten Gesprächen mit Freunden oder mit dem Gatten. Man könnte also annehmen, auch mich ließen das Ausmaß der Überwachung und die dazu verwandten Methoden kalt, und ich säße in meinem Sessel mit dem Gedanken, solange es mir als anständiger, unbescholtener Bürgerin nicht an den Kragen ginge, sei alles in Ordnung.

Im letzten September fuhr ich mit dem Gemahl nach Brüssel, um dort an der "Freedom not Fear"-Demonstration teilzunehmen. Es war ein Anliegen, dass uns am Herzen lag. Erschreckenderweise war allerdings der Demonstrationszug winzig, und es war ein höchst seltsames Gefühl, beim Protestzug in den Brüsseler Straßen von Asiaten aus einem Reisebus fotografiert zu werden, so als sei man ein lokales Kuriosum. Das Interesse an Themen wie Überwachung und Vorratsdatenspeicherung war noch vor einem Jahr denkbar gering, während es heute schon eine erkleckliche Anzahl an Menschen auf die Straßen treibt, und das nicht nur in Großstädten. Etwas von der Gleichgültigkeit scheint sich also inzwischen gelegt zu haben, und das ist gut so. Dennoch habe ich den (natürlich völlig subjektiven) Eindruck, dass es die Mehrheit abseits der Netzgemeinde eher wenig juckt, immer durchsichtiger (gemacht) zu werden.

Freiheit und Sicherheit werden einander in der Debatte immer als zwei gegensätzliche Pole gegenübergestellt, die es in Balance zu bringen gilt. Ein bisschen Überwachung scheint ergo zugunsten der Sicherheit durchaus in Ordnung zu gehen. Da ist der Wunsch nach Kontrolle über das Unkontrollierbare groß und die Sehnsucht nach dem Versprechen, sich nicht fürchten zu müssen, einfach zu verlockend. Es ist beinahe wie ein Rückfall ins Kindesalter, als man sich noch mit den Worten der Eltern beruhigen lassen konnte, alles werde gut und einem würde nichts geschehen. Das Problem ist, dass man es als erwachsener Mensch besser wissen müsste, denn es gibt keine finale Sicherheit. Aber es ist nun einmal bequemer, sich von anderen Menschen sagen zu lassen, was gut für einen ist.

Das Problem ist meines Erachtens nicht unbedingt das der Abwägung von Sicherheit gegen Freiheit, sondern die Verwechslung der Freiheit von mit der Freiheit zu. Die Freiheit von empfinden wir im Allgemeinen als entlastend. Freiheit von Bedrohung, Freiheit von Eigenverantwortung, Freiheit von eigenen Mühen, Freiheit von Krieg und Angst - wer uns dies verspricht und dazu noch betont, die Verhältnismäßigkeiten würden gewahrt, der kann sich beinahe sicher sein, Zustimmung zu erhalten. Freiheit davon, sich Sorgen machen zu müssen, wer wünscht sich die nicht? Mit der Freiheit zu sieht es allerdings ganz anders aus. Mit dem im Raume stehenden Generalverdacht, dem Zerfall der Unschuldsvermutung, mit der Rasterfahndung und der Verdächtigung aller zerfällt die Freiheit zu. Das bedeutet im Klartext, dass der Einzelne nicht mehr die Freiheit besitzt, zu denken, zu sagen, zu glauben was er möchte. Er darf am Flughafen nicht das Wort "Bombe" in den Mund nehmen, wenn er nicht mit unangenehmen Konsequenzen konfrontiert sein möchte. Er hat nicht mehr die Freiheit, ironische Scherze gegenüber Freunden zu machen, weil diese von Mithörern missverstanden werden könnten. Er hat nicht mehr die Freiheit, zu reisen, wohin er möchte und gleichzeitig offen zu sagen, was er denkt.

Die Freiheit zu wird leichtfertig gegen die Freiheit von eingetauscht. Der Mensch begibt sich mehr oder weniger willig in die totale Unmündigkeit hinein, motiviert von einer künstlich generierten Furcht, die gerade auf dem Feindbild des Menschen basiert, der sich die Freiheit zu nimmt. Natürlich ist es unangenehm, damit rechnen zu müssen, dass sich jemand die Freiheit nehmen könnte, jemanden in Grund und Boden zu bomben. Furcht allerdings ist ein schlechter Ratgeber und zieht lediglich mehr Furcht nach sich und den Wunsch, Freiheit von dieser Furcht zu erfahren. In einem solchen Zustand ist man zu allerhand Konzessionen bereit, und darin liegt die eigentliche Gefahr - nicht in der Person, die das Bombenattentat plant. Der Wunsch nach Freiheit von Furcht macht uns zu Schafen, die den Hirten alles mit sich machen lassen, damit bloß der böse Wolf nicht zuschlägt. Dennoch ist man auf diese Weise noch immer ein Schaf.

Da glaubt man schon mal gern, was einem erzählt wird. Die aktuellen Äußerungen der Bundesregierung haben beinahe ulbrichtschen Charakter. Niemand hat die Absicht, ordentliche deutsche Bürger auszuspionieren! Es ist zu unserem Besten. Schlaf nur weiter, mein Kind! Es war nichts, du hast nur schlecht geträumt.

Sind wir hinreichend eingeschüchtert, um die Freiheit zu einfach so aufzugeben? Es macht den Eindruck. Fürderhin wird, was man wirklich denkt, möglicherweise nur noch hinter vorgehaltener Hand unter freiem Himmel gesagt. Wer nichts zu verbergen hat..., so geht die Mär von dem Staat, der sich selbstverständlich nur begründeterweise einmischt und genau weiß, was gut für den Bürger ist. Das bedeutet, dass wir unsere Gedanken nicht mehr leben, unseren Impulsen nicht mehr folgen können. Wir verflachen und passen uns an. Was als gefährlich bewertet wird, bestimmen schließlich andere, und damit setzen sie auch die Maßstäbe dafür, was an Meinungsäußerung noch als akzeptabel gelten kann (Klatsch und Tratsch über Stars und Sternchen, Kochrezepte, Körperformen, Urlaubsziele, Produktbewertungen) und was nicht (religiöse, politische und weltanschauliche Diskussionen, Appelle an andere, Engagement für andere, Widerstand gegen und Kritik an Richtlinien und Gesetzen, Auflehnung, Querdenkereien und individuelle Ideen).

Es hat mit dem reinen Datenschutz nichts mehr zu tun, es geht nicht mehr allein um aktivierte oder deaktivierte Tickboxes bei Facebook oder Anmeldungen im Internet mit Klarnamen. Der banale Satz "Man braucht sich ja nicht bei Facebook/Twitter/Google+ anzumelden" geht vollkommen an der Realität vorbei. Wir leben in einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen telefoniert, mailt, ihre Daten angibt und in der die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass eine Überwachung rundweg möglich ist. Diese Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Wer sich aus sozialen Netzwerken heraushält, der wird dafür dann halt von der nächsten Straßenkamera erfasst und kann froh sein, wenn er nur beim Nasebohren ertappt wird. Vielleicht wird aber auch das noch auf die Liste der verdächtigen Verhaltensweisen gesetzt, wer weiß.

Die einzige Möglichkeit, dagegen vorzugehen, besteht meines Erachtens im ganz persönlichen Ungehorsam. Wir müssen den Mund aufmachen, so lange wird das noch können. Zugegebenermaßen fühle ich mich aber bisweilen auch ganz schön hilflos, was seine Ursache in eben jenem Phlegmatismus hat, der sich beobachten lässt. Der Gedanke kommt mir, ob sich Widerstand gegen diese Dinge überhaupt lohnen kann, wenn sich die Mehrheit willig fügt, so lange sie hinreichend mit Bildzeitung und Bratwürstchen versorgt wird. Andererseits - lohnt es sich nicht eigentlich immer, für die persönliche Freiheit einzustehen? Für meine und die der anderen?

Manchmal beschleicht mich die Angst, dass man uns am Ende sagen wird: "Ihr habt es nicht anders gewollt!" Und die Zellentür hinter uns zuschlägt mit den zynischen Worten: "Aber da drin, da bist du sicher! Garantiert!" Angst aber ist etwas, das ich definitiv nicht haben will. Nicht vor meiner eigenen Regierung. Eher nehme ich mir die Freiheit, sie abzuschaffen.

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Mittwoch, 7. August 2013
Mahlzeit!
Einen so blöden, öden und inhaltslosen Wahlkampf, wie er zur Zeit gerade stattfindet, habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Falls man das denn Wahlkampf nennen kann. Die Angehörigen der beiden großen Parteien hacken halbherzig aufeinander ein, und die Grünen versuchen ihr Profil dadurch zu schärfen, dass sie ihre potentiellen Wähler daran erinnern, was sie als Partei von den anderen abhebt: Das ökologisch gute Gewissen, das Interesse an umweltbezogener Nachhaltigkeit.

Wie es um selbiges tatsächlich bei den Grünen bestellt ist, ist eine andere Frage, aber dass der Vorschlag, einen "Veggie-Day" in den Kantinen unseres zauberhaften Landes einzuführen, auf wenig Gegenliebe stößt, war eigentlich abzusehen und somit ein Schlag ins Wasser. Das hätte man durchdachter anfangen können, schließlich ist dem Deutschen kaum etwas so wichtig wie Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung und seine tägliche Portion Schwein auf dem Teller.

So wundert es auch nicht, dass unsere bayrisch-kernige Karrikatur einer Verbraucherschutzministerin, Frau Aigner, dröge und unbelegt behauptete, das Fleisch gehöre zum Essen nun einmal dazu. Geht man davon aus, dass sie die Lebenswirklichkeit deutscher Konsumenten lediglich beschreibt, so trifft das natürlich zu. Und da man Frau Aigner eher als linientreue Ansprechpartnerin für Lobbyisten der Lebensmittelindustrie kennt, wundert einen auch nicht, dass sie sich in dieser Angelegenheit eher gemütlich gibt. Was der Bauer nicht kennt, dass frisst er auch nicht. Basta.

Was die Grünen und ihre Idee betrifft, bewahrheitet sich einmal mehr, dass gut gemeint noch längst nicht gut getan ist. Zumal es eine in der Bevölkerung recht verbreitete Angst gibt, irgendetwas verordnet zu bekommen. Da ist die reflexhafte Abwehr schon vorprogrammiert. Der Vegetariertag wird offenbar weitgehend als am Horizont aufziehende Drohung verstanden, unter Strafe zukünftig an einem bestimmten Wochentag kein Fleisch mehr essen zu dürfen. Das Geschrei ist groß. Die vermeintliche Einschränkung der Freiheit ist des Deutschen Schreckgespenst! Es soll sogar Menschen geben, die diesen Vorstoß der Grünen als Versuch sehen, eine ursprünglich christliche Idee auf Teufel komm raus zu verweltlichen und sich selbst auf die Fahnen zu schreiben. Denn war man nicht eigentlich als guter Christ schon immer ein braver Mensch, der an Freitagen auf Fleischkonsum verzichtet hat? Da kann ja nur das Bestreben der Grünen dahinter stecken, religiös motivierte Gewohnheiten radikal und per Zwangsmaßnahme zu säkularisieren.

Was auch immer man von solchen paranoid anmutenden Gedankengängen halten mag, den optimalen Weg haben die Grünen mit diesem Vorschlag sicher nicht beschritten. Denn wenn sich an unseren tier- und umweltschädlichen Ernährungsgewohnheiten etwas ändern soll, dann braucht es mehr als die zarte Idee, man könnte ja vielleicht mal Leute dazu animieren, auszuprobieren, ob es auch einen Tag ohne Fleisch gehen könnte. Ich lebe in einem Landstrich, in dem kasernierte Hühner und Schweine zum Landschaftsbild gehören. Im Frühjahr stinkt es hier so erbärmlich, dass man draußen seine Wäsche nicht aufhängen kann, weil die Mäster nicht wissen, wohin sie ihre Schweinescheiße noch karren sollen. Die Gewässerqualität ist mehr als fragwürdig. Angesichts dieser Tatsachen wirkt die Idee mit dem Vegetariertag wie Kindergartenkram, und sie würde auch dadurch nicht beeindruckender, wenn man einen solchen Tag verbindlich vorschreiben wollte.

Worum es eigentlich gehen müsste, steht auf einem ganz anderen Blatt. Verfechter der Massentierhaltung habe ich einmal argumentieren hören, intensive Tierhaltung sei schon allein deshalb dringend notwendig und moralisch richtig, weil es in der Welt so viel Hunger gebe und man sich für kommende Zeit fest vorgenommen habe, diesen zu beseitigen. Das klingt für eher schlichte Gemüter vollkommen schlüssig und vor allem so schön sozial, aber es ist hanebüchener und darüber hinaus dreister Unsinn. Als könne man den Welthunger dadurch beseitigen, dass man die ganze Welt mit billigen Putenschnitzeln aus Deutschland überschwemmte.

Da ist das Problem: Fleisch ist bei uns viel, viel zu billig. So lange es die Dutzendpackung knorpeliger Bratwurst für einen Apfel und ein Ei beim Discounter gibt und die sogenannte Schinkenwurst im eingeschweißten Päckchen nur 80 Cent kostet, wird der Mensch auch nicht weniger Fleisch konsumieren. Zumal es, angereichert mit allerhand Geschmacksstoffen, ja auch so wunderbar schmeckt und so herrlich süchtig macht. Die Werbung kredenzt dann noch die "kindgerechte" Bärchenwurst, BiFis sind ja so praktisch zum in die Tasche stecken, und es gibt sogar panierte Etwasse aus Fleisch, die man sich im Toaster rösten kann. Das ist Junk-Food erster Klasse.

Bereits seit hier im Frühjahr auch nur gebietsweise die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, wird überall gegrillt, was das Zeug hält. Es verging bisher kaum ein Tag, an dem nicht der rauchige Geruch von Würstchen und Bauch zwischen den Häusern waberte. Und nicht, dass man das gute Wetter unbedingt bräuchte, auch zu Silvester kann man sich mit einer Kiste Bier und dem Grill auf dem Stadtbalkon vergnügen - Angrillen schimpft sich das dann. Am Tag zuvor hat man offiziell abgegrillt. Die Nation frisst. Zu jeder Gelegenheit. Es kostet ja auch nichts. Vor einigen Jahrzehnten war der Sonntagsbraten noch ein solcher, nämlich das besondere Stück Fleisch, dass es auch nur zu besonderen, seltenen Anlässen gab. Inzwischen erinnert das Futterverhalten der Menschen irgendwie an den Film "Soylent Green".

Es soll also alles noch intensiver werden? Nein danke. Für mich ist Fleisch ein Luxus. Es mag snobistisch sein, dass wir unser Fleisch nur beim Metzger unseres Vertrauens einkaufen, der uns die vorherige artgerechte Haltung der Tiere garantiert. Man kann argumentieren, das könne sich nun einmal nicht jeder leisten. Stimmt auch.

Die Konsequenz daraus kann dann aber nicht sein, Fleisch noch billiger zu machen. Das resultiert zwangsläufig in Geflügel-Ernte-Maschinen, in kupierten Schweineschwänzen und abgeschnittenen Schnäbeln, entzündeten Augen und Massen von Tieren, die in ihrem kurzen Leben genau nur zweimal das Tageslicht sehen, nämlich auf den jeweils drei Metern in den Maststall und zum Schlachthof-Transporter. Teures Fleisch kann man sich eben seltener leisten, mit dem Resultat, dass man an anderen Tagen etwas anderes isst. Voilà, da ist der Vegetariertag. Und ganz ohne Verordnung.

Hierzulande wird allerdings subventioniert, was das Zeug hält, Genehmigungen für neue Massenställe werden verschleudert wie Bonbons zu Karneval, und man kann das alles gar als Notwendigkeit betrachten, denn schließlich hat man ja Frau Aigners qualifizierte Aussage, Fleisch gehöre nun mal dazu. Letztlich dient die ganze Angelegenheit aber allein dazu, über die schiere Masse den Gewinn zu maximieren. Wozu auch sonst würden noch extra Frauen- und Männerbratwürste erfunden?

Den Grünen kann ich trotz ihres stümperhaften Versuchs zugute halten, dass sie vermutlich wissen, man erreicht die breite Öffentlichkeit nicht mit differenzierten Gedanken zu Subventionen in der Landwirtschaft, Qualitätsmaßstäben für Tierhaltung und Fleischprodukte und zur Preispolitik. Sie haben es immerhin versucht und das Thema ins Gespräch gebracht.

Obwohl einige Freunde von mir vegan oder vegetarisch leben, werde ich nicht ganz auf das Fleisch verzichten. Es schmeckt auch mir manchmal gut. An Tagen, an denen es kein Fleisch gibt, muss ich mir aber auch nicht krampfhaft überlegen, was ich denn nun fleischähnliches essen könnte. Es ist eine Frage von Gewohnheiten und eine Entdeckungsreise in die wunderbare Welt der Lebensmittel, seinen Speiseplan so zu erweitern, dass es einfach eine Menge an netten Dingen gibt, die man essen kann. Ich werde nicht zittrig und nervös, wenn ich am Dienstag, Mittwoch und Samstag kein Jägerschnitzel kriege, und ich sähe meine Freiheitsrechte auch nicht beschnitten, wenn es zukünftig in Kantinen und Mensen einen Tag lang kein Fleisch geben würde. Was mir indes sauer aufstößt ist die Vehemenz, mit der die derzeitige Regierung unseren haarsträubenden Umgang mit Lebensmitteln weiter beibehalten und gar noch fördern will - dieses hemmungslose Fressen, das letztlich niemandem nützt außer der Lebensmittelindustrie.

Schon allein deshalb hoffe ich inständig auf einen Regierungswechsel im September, quasi als Geburtstagsgeschenk, wohl wissend, dass sich diese Hoffnung vermutlich nicht erfüllen wird. Aber ich wäre sogar bereit, einen zwangsweisen "Veggie-Tag" in den Kantinen der Republik wohlwollend hinzunehmen, wenn es dazu käme.

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Donnerstag, 1. August 2013
Neues aus der Anstalt
Am Montag habe ich einen Termin bei meiner sogenannten Arbeitsvermittlerin. Sie möchte mit mir über die Weiterbildung sprechen, und dazu hätte sie außerdem gern eine Einstellungszusage von meinem zukünftigen Arbeitgeber nach meiner Ausbildung zur Mediengestalterin.

Ah, ja. Es ist wohl gängige Praxis, so etwas zu verlangen, aber haarsträubend finde ich es trotzdem. Herausfinden zu wollen, ob die angestrebte Aus- bzw. Weiterbildung sinn- und zweckfrei ist oder tatsächlich Chancen bietet, ist ja noch nachvollziehbar.

Aber knapp anderthalb Werktage vor diesem Termin von was für einem Arbeitgeber auch immer eine verbindliche Zusage darüber zu erhalten, dass er jemanden einstellt, von dem er noch nicht einmal weiß, wie er sich in der Ausbildung anstellen wird, ob er zum Team passt und ob er ihn sich wirtschaftlich betrachtet tatsächlich in zwei oder drei Jahren leisten kann, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Offenheit bezüglich einer Festanstellung dürfe ich der Arbeitsvermittlerin gern mitteilen, aber verbindlich zusagen würde er so etwas nicht, meinte denn auch der Geschäftsführer der betreffenden Agentur.

Die Konsorten in der Anstalt sind inzwischen offenbar so betriebsblind, dass sie es nötig haben, sich an vollkommen sinnbefreiten Formalien entlangzuhangeln, anstatt den eigenen gesunden Menschenverstand einzusetzen und unter Zuhilfenahme desselben und unter Aufwendung von etwas Zeit mal selbst zu prüfen, ob das, was man da genehmigen soll, für den "Kunden" eine sinnvolle Angelegenheit sein kann oder nicht.

Ich weiß nicht, vielleicht wird man so, wenn man lange dort arbeitet. Sicher hat auch meine sogenannte Arbeitsvermittlerin ihre eigene Hölle, durch die sie tagtäglich gehen muss. Trotzdem kann ich nichts dafür. Ich möchte auf und ab hüpfen und brüllen: "Hallo!?! Ich bin ein Mensch! Ich bin keine Zahl, keine unbequeme Angelegenheit, keine Akte, kein Fall! Ich tue, was ich kann. Tun Sie's bitte auch!"

Eine Bewerbung ist noch offen. Beinahe wäre ich geneigt, mir allein deshalb ein Einstellungsgespräch und eine Zusage zu wünschen, damit dieses blöde Hick-Hack ein Ende hat. Das brächte mich zwar immer noch nicht zu einer abgeschlossenen Ausbildung, aber immerhin wäre ich nicht mehr auf das Wohlwollen dieses Deppenvereins angewiesen.

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Montag, 29. Juli 2013
Lesestoffbeschaffung
Ich war schon immer eine Leseratte. Neben meinem Bett befindet sich ein Stapel noch zu lesender Bücher, und der ist eigentlich immer konstant gleich hoch. Wenn er kleiner würde, dann würde mir das Sorge bereiten, denn dann hieße die drängende Frage: "Was lese ich als Nächstes?" Es gibt Tage, an denen es bei ein paar Seiten vor dem Schlafengehen bleibt, manchmal auch nur bei ein paar Sätzen. Aber ganz ohne geht es nie.

Dabei war ich nie eine ausgesprochene Freundin von Klassikern. Im Deutsch-Leistungskurs haben wir irgendwie alles sorgfältig umgangen, das andere Klassen und Kurse standardmäßig zu lesen hatten. Mit Lessing, Schiller und Goethe bin ich bis heute unvertraut, den Faust habe ich verdrängt und im Gedächtnis blieb mir nur Fontane - vermutlich, weil ich "Effi Briest" bereits las, bevor wir das Werk in der Schule sezieren mussten.

Es ist im Grunde erstaunlich, dass mir unser eigenartiger Deutschlehrer das Lesen nicht verleiden konnte. Bereits als Mädchen habe ich angestrengt gelauscht und beim kleinsten Geräusch, das im Treppenhaus zu hören war, schnell das Licht ausgemacht. Meine Bücher versteckte ich zum Teil im Bettkasten, weil meine Eltern über alles, was ich las, ein Urteil abgaben. Insbesondere dann, wenn es sich um Pferdebücher oder Teenie-Schnulzen handelte und nicht um etwas Höherwertiges. Dem wusste ich mich zu entziehen. Besonders tat es mir William Goldings "Herr der Fliegen" an mit seiner breiten Palette an Charakteren und dem mystischen Touch, den die Handlung später erhält. Meine Taschenbuchausgabe ist inzwischen reichlich zerfleddert, hat geknickte Ecken und einen abgestoßenen Rücken, aber das Buch gehört zu denjenigen, die ich niemals abgeben würde.

Beim Stöbern in Herrn Giardinos Zitaten-Liste stieß ich auf diesen "offenen Brief" über die Veränderung der Buchläden. Obwohl meine Hauptquelle für Bücher meist Freunde oder unsere äußerst gut sortierte Bücherei sind, kann ich nachvollziehen, was Stefan Möller schreibt. Auch in meiner Stadt hat der Buchhandel gelitten, es gibt von früher drei Buchläden nur noch einen, ein weiterer ist hinzugekommen, und natürlich ist da noch der obligatorische "Weltbild"-Shop, den ich persönlich aber kaum als Buchladen bezeichnen mag. Den Niedergang der wirklich guten Buchläden habe ich ziemlich deutlich mitbekommen, denn meine Schwiegermutter arbeitete lange Zeit in einem der örtlichen Geschäfte, das spezialisiert war auf Romane, Schulbücher und Schreibwaren.

Derjenige Buchladen, der bis heute noch besteht, bot früher schwerpunktmäßig Kinderbücher und war darin absolut sattelfest. Er hält sich bis heute zäh und wacker, was mit daran liegt, dass die Betreiberin es verstanden hat, eine gewisse Arroganz dem profanen Publikum gegenüber abzulegen. Der Gatte liest gern Science Fiction. Wenn er früher mit dieser Aufgabenstellung den betreffenden Laden betrat, erntete er meist ein recht herablassendes "Sowas führen wir nicht!" Inzwischen gibt es in dieser Buchhandlung einen jungen, bezopften Mitarbeiter, der Bescheid weiß, Empfehlungen geben kann und mit dem sich der Gatte gern über Neuerscheinungen unterhält. Kunde gewonnen statt vergrault, ein echter Pluspunkt. Und gern nehmen wir beide auch den Bestellservice in Anspruch, der schnell und unkompliziert funktioniert und dem Online-Bücherriesen in absolut gar nichts nachsteht. Im Gegenteil, als ich Karten für unsere Weserbergland-Wanderung benötigte, waren die im Laden erheblich unkomplizierter zu kriegen als im Internet.

Dieser Laden ist aber auch eher die Ausnahme. Die Betreiberin organisiert Lesungen und kulturelle Veranstaltungen, arbeitet eng mit der Bücherei zusammen und versteht etwas von ihrer Profession. Natürlich haben sich auch hier die Non-Book-Artikel eingeschlichen, von denen Stefan Möller schreibt. Auf der Verkaufstheke stehen Lesezeichen, kleine Schokoladetäfelchen, Briefbeschwerer, Kärtchen und Schlüsselanhänger, und ab und an habe auch ich durchaus etwas übrig für diesen Killefitt. Aber das Geschäft ist damit nicht überladen, und zum Glück würde man die "Shades of Grey"-Reihe und in deren Wirbelschleppe entstandene Fan-Fiction-Softporno-Bücher in dieser Buchhandlung vergeblich suchen. Der andere Laden dagegen hat ziemlich viel Ratgeber-Literatur à la Wie Sie Ihr Kind dazu bringen, mit drei Jahren sieben Sprachen zu beherrschen und Basische Ernährung leichtgemacht, Wörterbücher und vor allem viele, viele kleine Geschenkbüchlein (für die Jungfrau, den Widder und den Steinbock). Vor der Tür steht eine große Kiste mit reduzierten Wandkalendern des laufenden Jahres, auf den Titelbildern Kätzchen und Motorräder.

Was mir im Buchladen meines Vertrauens hingegen fehlt, ist eine größere Abteilung für englischsprachige Bücher. Zu deren Gunsten könnte man meiner Meinung nach gut und gerne auf einige Exemplare der Sinnsprüche- und Kirchenkalender-Ecke verzichten. Aber nun gut, danach fragt wohl wirklich die Kundschaft nicht in unserer kleinen Stadt. Wenn ich sie bestelle, bekomme ich auch diese Bücher innerhalb kurzer Zeit.

Trotz meiner Schwäche fürs Lesen gehöre ich aber nicht unbedingt zu den Stammkunden dieses durchaus qualitativ hochwertigen Buchladens am Ort. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, bei meinen Einkäufen den gut sortierten Einzelhandel zu unterstützen. Aber wenn man mich fragte, was ich denn eigentlich lese, was ich suche, dann könnte ich darauf gar keine handfeste Antwort geben. Ich bevorzuge kein Genre, entweder versteht es ein Autor, mich auf den ersten Seiten zu fesseln, oder er versteht es nicht.

Zur Zeit lese ich - profaner geht es in den Augen mancher sicherlich kaum - erneut die Harry-Potter-Bände, die eine wunderbare Lektüre für diese warmen Sommertage abgeben. Ich mag sie noch immer, die klassische Heldengeschichte von dem Waisenkind-Außenseiter, der plötzlich feststellt, dass nichts so ist, wie es scheint. Ich mag die Vorstellung, neben unserer könnte es noch eine andere Welt geben, in der mehr möglich ist. Zugleich sind die Bücher so menschlich, mit einer Prise Coming-of-age, und Rowlings Ideen tiefsinnig und phantasievoll gleichermaßen. Mich fasziniert das dauerhaft. Allerdings habe ich mir auch hier vorbehalten, die Bücher im Original zu lesen. In der Übersetzung verliert sich einfach zu viel Wortwitz und Eigenart.

Was das betrifft, bin ich also gerade ziemlich Mainstream. In meinem Wartestapel für die Post-Potter-Zeit liegen ein Sachbuch über Kriminalität und Richard Fords "Canada" im Original, worauf ich mich sehr freue. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Freundin I. gab mir vor langer Zeit einmal die Empfehlung, Stewart O'Nan zu lesen, was der beste Tipp seit langem war. Ich habe inzwischen beinahe alles von O'Nan gelesen und bin überaus fasziniert von seiner Sprache und den meist eher leisen Szenarien, die er um einschneidende Ereignisse herum erschafft (was ihm - ein Kompliment eigentlich - bei manchem Amazon-Rezensenten das Urteil eintrug, in seinen Büchern passiere ja überhaupt nichts).

Weil ich mich auf I.s literarische Ratschläge verlassen kann, brauche ich selten das Gespräch im Buchladen. Aber wenn ich sie nicht hätte oder wir nicht denselben Geschmack in Sachen Bücher teilten, dann wäre das genau das, was ich von einem fähigen Buchhändler erwarte: Dass er mir anhand von einigen Eckdaten Lektüre empfehlen kann, die meinen Geschmack trifft. Was natürlich voraussetzt, dass der Buchhändler selber liest. Zumindest Rezensionen, bestenfalls aber auch Bücher. Dass er sich auskennt in den verschiedenen Genres und etwas darüber sagen kann. Dass er den einen oder anderen Geheimtipp Werke und Autoren betreffend von sich geben kann, der neue Perspektiven erschließt.

Da käme der Online-Riese nicht mit. Während ich überhaupt kein schlechtes Gewissen habe, dort CDs zu bestellen, weil es auch hier am Ort lediglich einen Media-Markt gibt, der noch dazu eine grauenhaft schlechte Auswahl hat, halte ich mich Bücher betreffend dort heraus. Die Rezensionen der Kunden dort sind ohnehin eine schiere Katastrophe. Entweder, sie spoilern so gnadenlos, dass man das Buch nicht mehr zu lesen braucht, indem sie in Grundschulmanier die Handlung nacherzählen und letztlich als Fazit "Ich fand das Buch blöd!" hinzufügen, oder sie verreißen Titel, weil sie sie inhaltlich einfach nicht verstehen, oder, oder, oder... Allein die Tatsache, dass sich dort für solche Bewertungen langsam aber sicher der Terminus "Rezession" eingeschlichen hat, spricht für sich, führt aber immer wieder dazu, dass sich mir die Zehennägel hochbiegen.

Der stationäre Buchhandel ist also mitnichten tot, und manche, wenn auch längst nicht alle, Buchhändler verstehen es, mit Qualität zu überzeugen. Dass die weniger werden, ist schmerzhaft und bedauerlich. Da bin ich mir mit Stefan Möller einig. Dennoch würde ich nicht gleich jeden verurteilen, der gern sogenannte historische Wanderhuren- und Fugger-Romane, Krimis oder gar die unsäglichen "Shades-of-Grey"-Bücher liest. Sich über den Mainstream zu erheben ist, wie ich bei unserem besagten heimischen Buchladen erleben durfte, nämlich für viele Kunden auch ein Hinderungsgrund, einen Laden zu betreten. Wenn man das Gefühl hat, schräg angeschaut zu werden, nur weil man mit der sogenannten hohen oder "E-Literatur" nichts am Hut hat, dazu nie einen Zugang fand oder sie einfach noch nicht ausprobiert hat, dann fühlt man sich vergrault und kauft am Ende dort, wo niemand urteilt. Im Internet. Denn der Online-Riese liefert kommentarlos und frei jeglicher Bewertung, ihm ist egal, was er verkauft, so lange er verkauft.

Der Buchhandel verdirbt sich die Chance, Menschen von dort abzuholen, wo sie stehen, wenn er diese arrogante Haltung einnimmt. Die Bewertung über die Qualität von Literatur ist eine zweischneidige Sache. Natürlich gibt es wirklichen Schrott auf dem Büchermarkt, mehr, als für uns gut wäre. Aber das Empfinden, was denn nun Schrott ist und was nicht, ist subjektiv. Diejenigen Autoren, die mit Sprache zaubern können und die wirklich anrühren mit guten Geschichten, die bleiben in ihren Zaubergärten gefangen, wenn niemand mehr einen Buchladen betritt. "Kunden, die dies gekauft haben, kauften auch..." - dieser Algorithmus ersetzt nicht das gute Gespräch über die Ladentheke oder die Empfehlung von Freunden. Gute Literatur bleibt unter solchen Umständen so etwas wie eine gehobene Ware für eine kleine Elite. Und das ist schade.

Übrigens sind Leseempfehlungen hier sehr willkommen. Nicht, dass der Stapel neben dem Bett doch noch kleiner wird.

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Mittwoch, 17. Juli 2013
Was für ein Hin und Her.
Heute war ich in eigener Sache unterwegs. Auf der Couch in der Werbeagentur, die sich vorstellen kann, mich möglicherweise bereits zum August als Umschülerin zu nehmen, habe ich ein nettes Gespräch geführt, bei einer Tasse Kaffee. Punktlandung nicht ausgeschlossen.

Was weiter im Raum steht, ist die Kostenübernahme. Die Dame Vermittlerin bat mich ja ausdrücklich, mich um eine betriebliche Umschulung zu bemühen, und da bin ich nun, mit einer Quasi-Zusage. Die Herren aus der Agentur meinten, es könne auf keinen Fall sein, dass sich die Unterstützung des Arbeitsamtes lediglich auf zwei Jahre beschränke - wenn schon, dann übernähmen die alles. Da hätte man mich verkehrt informiert. Im Netz (welches nun wiederum nicht die zuverlässigste aller Quellen ist), ist zu lesen, dass nur eine auf 2/3 verkürzte Ausbildung getragen würde, und dass der Arbeitgeber zur Zahlung der Ausbildungsvergütung verdonnert werden könne, damit sich da niemand einen Azubi kostenlos abgreife.

Und jetzt hänge ich in der Luft, aufgerieben zwischen Bedingungen und Wenns und Abers. Wenn doch nur klar wäre, was ich wann antreten kann... So aber bin ich auf eine stichhaltige Aussage von irgendwo angewiesen. Ich selbst habe mich nach Kräften bemüht, habe mich gut verkauft, wie man so schön sagt, habe nach allen sich bietenden Hebeln gegriffen, und jetzt?

Ich bin durcheinander und weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Natürlich kann die Werbeagentur jederzeit sagen: "Ach, wenn wir die Kosten tragen müssen, können wir uns das leider nicht leisten!", und die AfA kann jederzeit sagen: "Ihre Bemühungen sind schön und gut, aber wir werfen unser Geld nicht irgendwem in den Rachen, nur damit die Kosten sparen können!" Und ich bin so klug als wie zuvor.

Ich habe an meine sogenannte Vermittlerin gemailt, weil die telefonisch ohnehin so gut wie gar nicht erreichbar ist, und erhoffe mir ein baldiges Feedback. Hoffentlich ein positives. Denn ich stehe in den Startlöchern - an mir soll's wirklich nicht liegen.

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Dienstag, 9. Juli 2013
Bleibt doch zuhause.
Ägypten tobt. Dass sich die verschiedenen Gruppierungen gegenseitig die Köpfe einschlagen, das sind wir alle ja schon irgendwie gewohnt, und auch drastische Bilder verlieren ihre Schockwirkung, nachdem das Thema so dauerhaft präsent ist.

Am Rande geht aber etwas vor sich, das weit weniger als die "Produktion von Märtyrern" Resonanz in den Medien findet: Massenhaft werden und wurden auch bereits vor Jahren Frauen systematisch vergewaltigt, die es wagen, sich auf den Demonstrationen am Tahrir-Platz zu zeigen.

In verwackelten, mit Handykameras aufgenommenen Videos kann man erkennen, wie Gruppen von Männern einzelne Frauen isolieren, einkreisen und in Seitenstraßen drängen, um sie dann zu misshandeln und zu vergewaltigen. Die Schuld an den Vorkommnissen schiebt man den Frauen in die Schuhe, denn sie hätten ja auch, wie es sich angeblich für Frauen ziemt, zuhause bleiben oder sich einfach von den Männern fernhalten können.

Das Ganze hat aber Methode und ist mitnichten als das ohnehin wackelige Konstrukt der männlichen, angeblich unzügelbaren Triebhaftigkeit einzuordnen, die sonst so als Rechtfertigung für die Maßregelung der Frauen herangezogen wird. Es ist systematische Einschüchterung und Ausgrenzung der Frauen durch sexuelle Gewalt, die weniger mit Sex, mehr mit Gewalt zu tun hat.

Interessant ist, dass diese Verbrechen bereits viel früher stattfanden als nur im Zusammenhang mit den jetzt neu ausgebrochenen Protesten und Konflikten. Schon im als Demokratiebewegung hochgepriesenen Arabischen Frühling hat es diese Vorkommnisse am Rande der Demonstrationen gegeben. Man muss kein Genie sein, um zu verstehen, dass es ohne die Gleichberechtigung von Frau und Mann keine wirkliche Demokratie geben kann, aber dies ist ein Detail, dass einfach nur zu gern unter den Tisch fällt. Die Hälfte der Bevölkerung wird allein aufgrund ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit zum Teil noch immer massiv aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und ist nicht in der Lage, ihre Rechte zu erkennen, wahrzunehmen und einzufordern. Bereits bei etwas so fundamental Wichtigem wie der körperlichen Unversehrtheit endet das Recht der Frauen in Ägypten.

Sehenswert in diesem Zusammenhang ist der Film "Kairo 678", der einen eindringlichen Eindruck vermittelt, wie es sich anfühlen mag, in Kairo als Frau mit alltäglicher sexueller Gewalt leben zu müssen. Auch dieser Film ging leider am Mainstream vorbei - ich fand ihn spät nachts im Sparten-Fernsehprogramm.

Es ist noch längst nicht laut genug geschrien worden über diese Gewalttätigkeiten, es sind noch längst nicht genug Tränen der Wut vergossen worden. So lange die Thematik aber immer nur als Meldung am Rande in den Medien auftaucht, wird sich ein Bewusstsein darüber leider nicht einstellen, und das drastischste, was einem über die Vorgänge in Ägypten im Kopf bleibt, sind in die Kamera gehaltene blutige Kleidungsstücke, die man "Märtyrern" ausgezogen hat. Über die seelische Verstümmelung der Frauen spricht man nicht. Sie hätten ja auch einfach zuhause bleiben können.

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