Sturmflut
Sonntag, 16. Oktober 2016
Heute kein Selfie.
Seit dem Sommer 2015 bin ich bei Twitter angemeldet und zwitschere seitdem regelmäßig meinen Senf in die Welt. Zu Facebook konnte ich mich nie durchringen, aber irgendwann fing der Gatte an zu twittern, und darüber hinaus waren es vor allem die Zusammenfassungen auf diversen Blogs, versehen mit Titeln wie "Tweets der Woche", die mich animierten, das 140-Zeichen-Ding auch mal auszuprobieren. Es gefällt mir und hat sich inzwischen zu einer Art Chat-Neuigkeiten-Kontakte-Apparat ausgewachsen, der mich im täglichen Leben begleitet. Und mit ihm viele Menschen hinter Avataren und Accounts, die liebenswert, spannend, nachdenklich, interessant sind. (Zudem ist das Gezwitschere möglicherweise auch ein Grund für seltener werdende Blogeinträge hier, wobei ich das Gefühl habe, das ändert sich gerade wieder. Denn 140 Zeichen reichen eben doch manches Mal nicht aus, um Gedanken auszubreiten. Allenfalls, um sie anzureißen.)

Twitter ist aber neben diesem Blog momentan das einzige "Social Media"-Werkzeug, das ich nutze. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die auch noch einen Instagram- oder Tumblr-, Flickr- oder Google+-Account haben, via Swarm-App Aufenthaltsorte in die Welt blasen oder bei Facebook ihr Innerstes nach außen kehren. Innerstes. Nun ja. Mich treibt momentan sehr um, was besagte "soziale" Medien aus oder mit ihren Nutzern machen oder eben umgekehrt die Nutzer mit ihnen.

Ich stellte neulich mal wieder fest, dass ich unfähig bin, mit dem Handy ein Selfie von mir zu machen. Mit "unfähig" meine ich, ich bin dazu tatsächlich nicht in der Lage. Meine Hand ist zu ungeschickt, um es hinzubekommen, die Kamera im richtigen Blickwinkel auf mich zu richten und dann auch noch den Auslöser zu drücken. Vom Resultat rede ich mal gar nicht, ich bin offensichtlich nicht selfiegen. Dann staune ich über Memes und Strömungen, die mit Selfies mehr oder weniger direkt im Zusammenhang stehen. Die sogenannten Hot Dog Legs beispielsweise, die entstehen, wenn man am Strand liegend fotografiert und die eigenen Beine noch mit im Bild sind. Sie sehen dabei heißen Würstchen bisweilen recht ähnlich, was ein findiger Koch für eine Marketing-Kampagne zu nutzen wusste. Das aber nur am Rande. Oder die Ratschläge im Netz, wie man es schafft, sich möglichst vorteilhaft mit der Handykamera selbst aufzunehmen. Duck face. Fish gape. Von wo es nicht mehr weit ist zu thigh gap und bikini bridge.

Hinter diesen Phänomenen steht eine für mich befremdliche Art der Selbstbespiegelung. Die Betreiberin eines Modeblogs sagte neulich in einem Fernsehinterview, angesprochen auf die fragwürdigen Körperideale, die in sogenannten Mode- und Beautyblogs vermittelt würden, sie ginge davon aus, dass die Konsumenten verantwortungsvoll mit den Inhalten umgingen. Letztlich sei aber das Gezeigte nun einmal das, was die Menschen sehen wollten. Bloggen, Twittern und Selfies posten fungiert also gewissermaßen als eine neue Form der Nachbarschaftskontrolle. Das Publikum legt fest, was erstrebenswert ist und daher als normal eingestuft werden sollte, und daran richten sich dann die Selbstdarsteller aus. Meistens ist jeder zu unterschiedlichen oder gleichen Zeiten beides - Bewerteter und Bewerter, Darsteller und Rezipient.

Man könnte sagen, so sei das halt im "Neuland" Internet, oberflächlich und schnelllebig. Und was gehen mich Mode- und Beautyblogs an? Ist eh nicht mein Gebiet. Und schließlich geht es ja um das Generieren von Klickzahlen, Followern, Freunden. (Als sei dies tatsächlich eine gute Begründung oder gar Entschuldigung für alles...) Oftmals wird die rein virtuelle Natur des Netzes angeführt als Grund für diese Oberflächlichkeit. Sie verhindere den wirklichen Kontakt zwischen Menschen im Gegensatz zum "real life" (RL) und biete eine Bühne, hinter der nicht viel, bisweilen sogar gar nichts Wahrhaftiges stünde.

Letztlich hat sich aber eventuell nur die Reichweite verändert. Früher achteten Nachbarn, Bekannte und Familie darauf, ob alle Stiefmütterchen im Beet gerade standen, tratschten miteinander, sanktionierten von der Norm abweichendes Verhalten, legten Maßstäbe darüber fest, was sich gehörte und was nicht und beobachteten, wer sonntags ordnungsgemäß im Gottesdienst erschien. Vielleicht war der Themenkreis kleiner, weniger Leute wussten voneinander. Aber sehr wohl legte "man" fest, worüber gesprochen wurde und worüber nicht, wie "man" auszusehen, sich zu geben hatte, mit wem Kontakt erwünscht oder nicht erwünscht war. Eventuell ließen sich Lackschichten etwas leichter durchdringen als heute, aber das in andere Formen gegossene virtuelle Leben ist sicherlich nicht weniger real.

Mir ist aufgefallen, dass es Menschen gibt, die sich als Kunstfiguren bezeichnen, deren wirkliche Identität nach eigener Aussage von der virtuellen abweicht. Sei es, dass eine Bloggerin mit ihren sexuellen Experimenten prahlt und sich - darauf kritisch angesprochen - darauf zurückzieht, nicht alles Geschriebene sei tatsächlich so geschehen. Sei es, dass ein Podcaster am Mikrofon den rülpsenden Unhold mit lokalkoloriertem Dialekt gibt und sich im Gespräch herausstellt, dass er ganz anders gestrickt ist. Diese Art Rollenspiel hat sicher für die Spielenden einen Sinn, sonst würden sie ihre Rollen nicht spielen. Mich selbst ödet derartiges Verhalten eher an. Es ist für mich vergleichbar mit dem Auftreten des Kollegen, der permanent auf dicke Hose macht, mit seinem Tempo auf der Autobahn prahlt und Tittenwitze von sich gibt. Ich sehe und höre unglaublich viel, aber nicht den Menschen.

Und das ist es dann letztlich. Natürlich kann man annehmen, dass alle Menschen zu gewissen, wahrscheinlich sogar wechselnden Anteilen aus Selbst und Maske bestehen und es tatsächlich auch eine Notwendigkeit gibt, verschiedene Masken zu verschiedenen Anlässen mit unterschiedlichen Menschen zu tragen. Im positiven Sinne gerinnt dieses Verhalten für mich in dem schlichten Satz: "Ich mag, wer ich mit Dir bin!" Vielleicht trägt jeder gewissermaßen auch ein Stück eines Selbstideals von sich nach außen, das die eigenen dunklen Punkte, die Makel, die schambehafteten, vermeintlich unnützen, schäbigen und unbequemen Aspekte ausblendet. Im Netz ist das einfacher als im "real life", aber möglicherweise nicht unbedingt häufiger.

Eine spannende Frage ist für mich, wie weit Menschen hinter den Bildern, den "Selfies", die sie von sich geben, spürbar sind. Ich stieß vor längerer Zeit einmal auf das Blog The Freckled Fox auf der Suche nach Ideen, was ich mit meinen Haaren anstellen könnte. Eine Weile unterhielt mich das Blättern durch die Seiten der Bloggerin, und dann irgendwann verlor sich das Interesse. Zu perfekt erschien mir die Inszenierung des Lebens mit ihren fünf Kindern, zu brilliant die Fotos ihrer selbst gemachten Einrichtung, zu glatt alles. Sogar die Bilder des Begräbnisses ihres an Krebs verstorbenen Mannes sind schön. Sicht- und fühlbar ist da für mich mehr Image als Person, trotz der Trauer in den Gesichtern. Natürlich sagt ein Image viel darüber aus, wie ein Mensch sich wünscht zu sein. Aber manchmal ist es eben auch ganz profan, manchmal geht es tatsächlich lediglich um Klicks, ein glattes Äußeres, um Makellosigkeit. Oder eben um die Angst, das nicht zu besitzen.

Mich fasziniert Authentizität. Menschen, die sagen können "Heute nicht!" oder "Ich weiß es nicht!" oder "Es geht mir gerade fürchterlich." korrespondieren sehr viel mehr mit dem, was aus meiner Erfahrung Leben ausmacht, als die, die sagen: "Schau her, mein Haus, mein Auto, meine Kinder, mein Garten, mein Kleiderschrank, meine Meinung!" Es entsteht Kongruenz zwischen dem, was jemand über sich sagt, schreibt, von sich zeigt oder nicht zeigt, und dem, was man im direkten Kontakt erleben kann. Menschen werden spürbar, mit ihren Makeln und Unsicherheiten ebenso wie mit ihren Schönheiten und ihrer inneren Blüte. Wer sich das traut, beeindruckt mich wirklich.

Paradoxerweise finde ich auch diese Eigenschaften bei Menschen im Netz. Das ist ein guter Grund für mich, weiter zu bloggen und zu twittern, Blogs und Zwitschereien zu lesen. Woran ich das merke, dass diese authentisch sind und jene nicht? Ich kann das nicht beantworten. Aber ich lasse es gern immer wieder auf Versuche ankommen.

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Montag, 29. August 2016
"Stress hat nur der Leistungsschwache!"
Wenn ich nicht so wäre, wie ich bin, dann wäre es mir ganz egal, ob es unpopulär ist, über das eigene Versagen zu schreiben. Aber ich bin, die ich bin. Es macht mir etwas aus, denn die Erwartungen anderer sind nach wie vor viel bedeutender für mich, als ich eigentlich selber will. Das macht die eigene Schwäche noch viel schwerer erträglich, als sie es sowieso schon ist.

Es ist unpopulär, besagte Schwäche zu thematisieren. Das wird im besten Fall mit befremdeter Distanz beantwortet, mehrheitlich aber als Jammern gedeutet oder als Selbstmitleid, und als solches auch verurteilt. Ich erlebe das besonders im Kollegium, in dem einerseits die Leute angesichts hoher Arbeitsbelastung und 50-Stunden-Woche umfallen wie die Fliegen, andererseits aber ständig Sprüche fallen wie "Stress hat nur der Leistungsschwache!" oder "Ach, der ist so ein depressiver Lappen!". Um zum Punkt zu kommen: Natürlich trifft mich das, denn ich bin mal wieder so weit, ich habe es nicht ausgehalten, nicht mehr länger geschafft, ich gehöre zu eben jenen Leistungsschwachen, die es nicht packen.

Ich bin seit vergangener Woche wieder krank geschrieben. Die Migräneanfälle häuften sich wie näher kommende Bombeneinschläge, bis ich am Ende kaum die Möglichkeit hatte, mich überhaupt so richtig von einem zu erholen, ehe der nächste kam. Migräne, das ist auch so ein Ding. Findet sich auf einer blöden Webseite als Tipp für eine Krankheit, die man dem Arzt und dem Arbeitgeber vorspielen kann, um blau zu machen, ohne dabei erwischt zu werden. Und ich denke nur: "Herzlichen Dank für diesen Bärendienst, ihr Idioten!" Migräne gehört zu den definitiv absolut unschönen, wiederkehrenden Erlebnissen, die mich bereits den größten Teil meines Lebens begleiten. Wenn sich die Augen weigern, zu sehen, der Kopf, zu denken, wenn sich Worte in Luft auflösen, noch ehe der Mund sie formen kann, wenn das Gefühl aus den Fingern weicht und am Ende alles in einen penetranten Schmerz mündet, dann ist das kein Vergnügen und hat schon mal gar nichts mit Urlaub zu tun. Aber wer glaubt einem das? Zumal das Etikett "selbst schuld" schon draufgeklebt wird, kaum dass man das Wort Migräne überhaupt ausgesprochen hat. "Kannste da nicht eine Tablette einwerfen und weiter arbeiten?", fragte unser Betriebsleiter mal. Nein. Kann ich nicht.

Getriggert wird die Migräne bei mir massiv durch Stress, und das macht die Sache nicht leichter. Denn Stress haben ja schließlich nur die Leistungsschwachen. Den macht man sich ja selbst. Also ist wohl auch die Migräne selbst gemacht.

Mein inneres Bewertungssystem ist eine Sache. Dass es mir nicht erlaubt ist, mich hängen zu lassen, aufzugeben, loszulassen, mich zu erholen, etwas nicht zu schaffen - das habe ich verinnerlicht und rufe es mir immer wieder brav ins Bewusstsein. Ich bin ganz die Marionette dieser alten Maßstäbe, die ich immer noch reproduziere, weil ich mich hundsmiserabel fühle, wenn ich es nicht tue. Wie es also auch kommt, hundsmiserabel fühle ich mich auf jeden Fall. Noch mehr Abwertung kommt dann von außen dazu. Bei der Arbeit geht es um Schuldzuweisungen für Fehler, nicht um die Bewältigung von Problemen. Darum, das maximale Arbeitspensum aus den Angestellten herauszuquetschen, nicht darum, sich besser aufzustellen, um für die nächste Auftragsspitze auch gut gerüstet zu sein. Und dann noch die blöden Sprüche dazu. Der Chef findet, wir laufen zu viel durch die Gegend und verschwenden damit Zeit. Findet, wir starren nur auf den weißen Bildschirm.

Ich sitze hier, den Laptop auf dem Schoß, und denke über das eigene Versagen nach. Darüber, warum es mich so schmerzt, dass mir meine Migräne und damit den "guten Grund" fürs Krankgeschriebensein keiner glauben wird. Den Grund, den man ja immer braucht, weil es nicht ausreicht, zu sagen: "Ich kann nicht mehr. Ich schaff's nicht mehr!" Draußen scheint die Sonne, mein Blick ist gerade klar, und die Stimme in meinem Kopf sagt: "Du könntest längst wieder arbeiten." Die Erlaubnis, mich gut um mich selbst zu kümmern, entzieht sie mir sogar noch rückwirkend. Das macht unendlich müde, müde von einer Art, die sich nicht durch Schlaf beheben lässt - und es ist Teil des Problems. Begrenzte Belastbarkeit ist ein Problem, weil sie nicht mehr stattfinden darf. Niemand ist unbegrenzt belastbar. Das weiß mein Kopf. Aber meine Seele, die hat es gefressen, dass es keine Gnade gibt für die, die nicht immer und überall 100 % geben. Diese 100 % nicht zu schaffen, das kommt dem Entzug der Existenzberechtigung gleich. Auch das ist Depression.

Ich versuche, der aufkeimenden Wut in mir eine Chance zu geben. Mir mehr und mehr bewusst zu werden, dass ich mich wehren darf - gegen die Totalverwertung und die Verurteilung, die dem vermeintlichen Versagen anhaftet. Ich war gerade einen Tag raus aus dem Job, da erreichte mich eine WhatsApp meines Kollegen, ob ich nicht noch mal kurz helfen könnte, ... Nein! Nein, ich kann dir nicht helfen, denk selber! Es macht viel weniger Mühe, als du meinst. Ich kann dir nicht helfen, denn ich bin in einem Zustand, in dem es nicht mehr geht. Am Ende der Fahnenstange. Krank heißt nicht im home office!

In der Nacht vor dem Migräneanfall, der mich schließlich zum Arztbesuch mit Krankschreibung veranlasste, träumte ich, ich hätte einen Schlaganfall. Ich lief mit herabhängendem Mundwinkel durch die Gegend, nicht in der Lage, mich vernünftig zu verständigen. Ich sagte immer nur wieder: "Ruft den Notarzt, ruft den Notarzt!", aber niemand wollte glauben, niemand wollte helfen. Währenddessen spürte ich, wie sich mein Bewusstsein immer mehr auflöste und ich immer handlungsunfähiger wurde. Ich glaube, dass dieser Traum zu meinem Beschluss beitrug, die Reißleine zu ziehen.

Die gehässigen Stimmen, die mir Dramatisierung vorwerfen und Übertreibung und Selbstmitleid, sind nicht Resultat, sondern Ursache dieses Problems. Ich streife diese Erkenntnis zum wiederholten Mal und hoffe auf ein Begreifen.

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Sonntag, 21. Februar 2016
Ich ertrag's nicht mehr.
Es gehört normalerweise zu meinen festen Gewohnheiten, nach dem Nachhausekommen von der Arbeit den Fernseher einzuschalten. Auf Tagesschau24 schaue ich mir an, was es Neues in der Welt gibt. Ich möchte gerne kurz und bündig über die Geschehnisse informiert sein, damit ich danach meinen eigenen Kopf in Gang werfen und das Gesehene für mich einordnen kann. Manchmal schaue ich mir noch den einen oder anderen Hintergrundbericht an. Zusätzlich lese ich diverse Blogs, und es tauchen Informationen in meiner Twitter-Timeline auf. Natürlich sind die letzteren beiden Quellen sehr durch meine subjektive Perspektive gefärbt, denn ich lebe nun einmal auch in einer Filterblase.

Als ich gestern von der Arbeit kam, landete ich ziemlich müde auf dem Sofa, sichtete, hörte und las die Nachrichten und konnte dann nicht mehr. Ich merkte beinahe körperlich, wie ich an meine Grenzen kam. Zunächst waren da die Videos der Geschehnisse in Clausnitz. Syrien, das unsägliche "Asylpaket II", und nach diversen weiteren Nachrichten kam dazu dann noch die Meldung zu Deutschlands glänzend laufenden Rüstungsexporten, unter anderem nach Katar. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten, zur Fernbedienung gegriffen und ausgeschaltet. Es war mir einfach zu viel, ich hätte heulen können.

Ich sehe üblicherweise immer die Notwendigkeit, mich zu dem, was ich sehe, höre und lese, zu positionieren. Aber das saß jetzt nicht mehr drin. Schon vor einigen Wochen war es dem Gatten ganz ähnlich gegangen, der mit einem Mal abends zu mir sagte, er käme mit der Welt nicht mehr klar. Ich verstehe ihn.

Ich hatte versucht, meine Haltung auf Twitter zu verbalisieren und fing mir dabei dann auch noch die zweifelhafte Ehre ein, von mehreren ganz offensichtlich fremdenfeindlich gesinnten Kameraden retweetet zu werden. Man sollte wohl immer dazu schreiben, ob man die aktuelle Politik von der linken oder der rechten Seite aus kritisiert. Besagtes Missverständnis gab mir jedenfalls dann den Rest.

Denken ist für mich in dieser Lage schwierig. Denn was ich sehe und erlebe, macht mir einfach nur noch Angst. Ich will etwas tun, erschrecke aber angesichts des hemmungslosen Hasses einfach nur noch bis in die Knochen und verharre bewegungslos. Es geht mir ein wenig wie Patricia Cammarata (Das Nuf Advanced). Sie schreibt:

Und am Ende, hätte ich gerne eine Antwort auf die Frage "Warum habt ihr nichts getan". Ich weiß gerade nicht, was ich tun kann. Was ich tun muss. Wirklich muss. Ich will diese Entwicklungen nicht mehr dulden. Ich will nicht Teil einer fremdenfeindlichen Kultur sein. Ich will ein Mensch bleiben. Menschlich sein, Mitgefühl haben, Empathie. Ich will nicht zuschauen und alles geschehen lassen.

Ich weiß es auch nicht, und das macht mich fertig. Dieses Gegröhle, das man in dem Clausnitzer Video sehen konnte, dazu das Verhalten der Polizei, die dummen Ausreden im Anschluss (das Zeigen eines Mittelfingers berechtigt also zu einem solchen Vorgehen seitens der Polizei?), die körperliche Gewalt, die schreienden Stimmen - all das macht mir fürchterliche Angst.

Ich bin kein besonderer Mensch, ich habe bislang nicht viel für die Flüchtlinge in meiner direkten Umgebung getan und auch nicht viel gegen die ortsansässigen Nazis. Ich bin auf ein paar Demos gewesen. Unser Freund hat einmal einen jungen Syrer zu unserem Kinoabend mitgebracht - einen stillen, sehr höflichen und bescheidenen Jungen. Ich habe mich ab und an mit einigen der zwei Häuser weiter wohnenden Asylbewerber unterhalten, sie gegrüßt, angelächelt, wenn mir danach war. Das sind alles keine Heldentaten, sondern Dinge, die mir leicht fielen und nichts zu tun haben damit, Farbe zu bekennen.

Ein paar Nazis hatten wir ebenfalls zwei Häuser weiter, unschwer zu erkennen an Ihren Autokennzeichen mit der 88, ihrem Outfit und ihrem W-LAN-Netzwerk, das sie mit "White Power" benannt hatten. Ich war nur froh, als sie von hier weg zogen.

Der greifbare Hass, der sich nicht erst seit vorgestern Bahn bricht, macht mich auch deshalb so hilflos, weil ich den Eindruck habe, das alles kommt aus der Mitte, aus dem Herzen der Normalität. Sicher, in meiner Filterblase und meinem Freundeskreis ist es überhaupt nicht schwer, sich einig zu sein. Aber bereits im Kollegium kennt wieder jeder jemanden, der mal mit jemandem gesprochen hat, der "weiß": Ausländer klauen. Ausländer vergewaltigen. Ausländer sind Frauenfeinde. Ausländer sind Terroristen... (Beliebiges ergänzen.) Gleich einer urbanen Legende: Jeder kennt ja auch die Spinne in der Yuccapalme.

Die Politik "schämt" sich unterdessen einfach nur kollektiv vor den Kameras, um dann weiter ihren Kurs zu fahren, Ressentiments zu schüren und das Leben denen schwer zu machen, die es ohnehin nicht leicht haben. Sie spielt damit den Hassenden in die Hände. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, sie trägt eine deutliche Mitschuld an diesem heißen, gewalttätigen Hass. Es ist wenig glaubwürdig, den Menschen im Land Zivilcourage, soziales Verhalten und Gemeinsinn abzufordern, wenn man zugleich mit übelsten polemischen Schlagworten versucht, das am rechten Rand entlaufene Stimmvieh wieder einzufangen. Es ist kaum zu erwarten, dass die Bevölkerung sich für ihre Würde und Freiheit und die anderer Menschen einsetzt, wenn man ihr mit düsteren Terrorszenarien Angst macht und sie damit bei ihrem Wunsch nach Sicherheit packt. Das muss in die Lähmung führen.

Derart betäubt schaffen wir keine realistischen Blicke auf das Geschehen mehr, erkennen keine Zusammenhänge, sind handlungsunfähig. Ich schließe mich mit ein. Denn inzwischen hat in diesem Land (und in ganz Europa) ja irgendwie jeder jemanden, vor dem er Angst haben kann. Die einen haben Angst vor dem Verlust ihrer Pfründe und davor, dass sie zu Gunsten Fremder, Homosexueller oder Arbeitsloser übervorteilt werden. Die anderen haben Angst vor den "besorgten Bürgern", weil sie fürchten, Stellung für irgendwen oder irgendwas zu beziehen könnte auch ihnen bald einmal eine eingeschlagene Scheibe, einen Molotowcocktail an der Hauswand oder Morddrohungen bescheren. Auch da schließe ich mich ein.

Solche Angst tut mir nicht gut, sie tut niemandem gut. Aber ich habe auch das deutliche Gefühl, es helfen keine Lichterketten und Gegendemos, keine Online-Petitionen, keine "Deutschland ist bunt"-Plakate. Gegen die geballte Irrationalität der Angst sind solche Mittel machtlos, ja regelrecht niedlich.

Welches Bekenntnis würde ich abgeben wollen, wie würde ich mich verhalten wollen? Wieviel und welchen Einsatz ist es mir wert, (nicht nur) vor dem Hintergrund der Geschichte meines Landes den Anfängen zu wehren? Kann ich das überhaupt? Auf wievielen Baustellen kann ich mich zeitgleich abarbeiten? Habe ich dazu die Kraft?

(Das ist ein bisschen wie bei der immer zu kleinen Bettdecke - egal, an welcher Ecke man zieht, man ist nie ganz zugedeckt. Sie reicht einfach nicht. Das ist eines meiner persönlichen Probleme, aber vielleicht doch auch wieder nicht. Wir stecken ja schließlich alle mehr oder weniger im kraft- und zeitraubenden turbokapitalistischen Wahnsinn fest, der uns am klaren Denken und Erkennen durch seine Vereinnahmung hindert. Das aber nur so am Rande, auch wenn's da eigentlich nicht hingehört.)

Die, die da so hemmungslos und empathiebefreit "Wir sind das Volk!" brüllen, könnten dieselben sein, die mir, Dir und Ihnen morgen aus welcher "Sorge" heraus auch immer die Hütte anzünden und den Schädel einschlagen. Sie brauchen keinen Grund, denn jeder Grund ist gut genug.

Das macht mich wirklich verzweifelt. Wirklich. Verzweifelt.

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Samstag, 14. November 2015
Notiz
Ich werde auch weiterhin hier schreiben.

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Sonntag, 12. Juli 2015
Mehr tot als lebendig
Inzwischen bin ich ziemlich gelassen, wenn ich meiner Schwester begegne. Der Drang, mich ihr gegenüber für mein Leben zu rechtfertigen oder meine Leistungen aufzulisten, hat deutlich nachgelassen. Ob sie mich ver- oder beurteilen wird, treibt mich nicht mehr um, denn wenn sie es tun will, tut sie es so oder so. Ich nehme an, wirklich nah werden wir uns wohl nie sein. Dennoch merke ich auch, dass sie längst nicht alles böse meint, was sie von sich gibt, und dass sie prinzipiell freundlich sein kann. Heute mehr als früher.

Genau so befremdet mich aber auch immer ihre Welt. Ich habe sie und ihre Familie länger nicht mehr gesehen, aber als wir uns gestern zum Mittagessen trafen, fühlte es sich nicht nennenswert anders an als sonst. Das bedeutet trotzdem auch, dass ich mich immer wieder wundere. Über ihre Kühle, darüber, wie extrem selten sie lacht, wie hart sie wirkt. Mein Schwager ist etwas ausgeglichener, ruhig, wärmer.

Ein Riesentheater wurde in dem Café-Restaurant, in dem wir saßen, um das Essen der Kinder gemacht. Meine Nichte, ihre beste Freundin und der Neffe aßen nicht zur Zufriedenheit meiner Schwester. Zu wenig. Hinterherkeineis. Klar, Essen ist mit Kindern immer ein Thema. Das ist auch bei den Kids auf der anderen Seite nicht anders. Aber meine Schwester sorgte dafür, dass zumindest Sohnemann das Essen ernst nahm. Sie griff hart in seinen Nacken, in der anderen Hand die Gabel mit den Nudeln, die sie in Richtung seines Mundes führte. "Du isst jetzt noch was!" Dass der Versuch dennoch misslang, frustrierte sie sichtlich.

Auf jede einzelne Äußerung der Kinder reagiert sie mit unglaublichem Ernst. Kein Raum für Spielerisches, kein Raum fürs Durchatmen. Wie schon eher war da obendrein die Angst, die Kinder könnten sie blamieren. "Da gucken bestimmt auch schon wieder alle!" "Wie gut, dass keiner direkt neben uns sitzt!"

Meine Schwester ist beinahe vollständig humorbefreit. Ich habe sie noch nie ungezwungen erlebt. Jedes Wort wird abgewogen.

Kontrast dazu dann das abendliche Grillen mit Freunden und deren Eltern bei uns. Niemand ist perfekt, auch diese Menschen nicht. Aber es ist so viel mehr Leben in allem. Es wird über Gefühle und Geschichte gesprochen, spontan gelacht, Anteilnahme gezeigt. Ich empfinde das als wirklich, als echt, als Grundzustand.

Ich frage mich, wann das Leben aus meiner Schwester herausrann und wann ihre knöcherne Maske Risse bekommen wird. Ich will mich nicht über sie erheben - wir hatten dieselben Eltern, und jede von uns geht damit anders um. Das Entsetzen packt mich, wenn ich den zwanghaften Umgang sehe, den sie mit ihren eigenen Kindern pflegt. Die Einhaltung von Regeln ist so wichtig, die Erfüllung ihrer starren Vorstellung davon, wie die Dinge zu sein haben. Das Gegenteil von Leben eben.

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Und täglich grüßt das Murmeltier...
Vermutlich gehört es wohl zum Leben dazu, immer mal wieder enttäuscht zu werden. Ich ärgere mich darüber, dass ich so dumm war, zu hoffen. Vielleicht gibt es Leute, die sowas mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem "Tja!" hinter sich lassen. Ich gehöre nicht zu denen.

Wieder mal geht es um S.. Aus gutem Grund hatte ich meinen diesjährigen Urlaub vollkommen ohne sie geplant. So schön unsere gemeinsamen Erlebnisse gewesen sind, sie sind nicht wiederholbar. Ich habe es vermieden, ihr überhaupt von meinen Niederlande-Wander-Plänen zu berichten, was vielleicht auch ein bisschen unaufrichtig war, aber ich wollte nichts Altes wieder aufwärmen. Weil die Sprache unausweichlich darauf gekommen wäre, dass wir das doch auch unbedingt mal wieder zusammen machen müssen, ach, das wäre schön.

Ja, schön wäre so einiges. Ich habe schon verstanden, dass sich S. nicht ändern wird oder zumindest, dass es vermessen ist, mir das zu wünschen. Im Frühjahr kündigte sie von sich aus an, im August zu Besuch kommen zu wollen. Ein paar Tage, vielleicht wären wir über die Grenze gefahren zu einem Bummel, Kaffee trinken, spazieren gehen, reden.

Offen wollte ich sein und S. auf mich zukommen lassen, so, wie sie es eben am besten kann. Ich nahm an, sie könne es so am besten, wie sie es mir ankündigte. Ein großer Irrtum. Und es ist ein ebenso großer Irrtum meinerseits, zu glauben, wenn ich nur meine Erwartungen tief genug hänge, sei kein Raum mehr für Enttäuschungen.

S. meldete sich bei mir und schlug ein Nachmittagstreffen gemeinsam mit dem Gemahl, ihrem Lebensgefährten und Freundin I. und deren Mann vor - bei I. zuhause. Ich habe das zähneknirschend angenommen. Mir passte aber schon da nicht, dass sie wieder mal uns alle zusammen "abfrühstücken" wollte, und das, anstatt für die ursprünglich gedachten mehreren Tage zu mir zu kommen. Aber die Aussicht, sie mal wieder zu sehen, war doch noch gewichtiger als der grundsätzliche Ärger.

Heute schickte sie dann eine Mail, in der sie eine Vorverlegung des Termins vorschlug - weil I. und ihr Mann an dem genannten Sonntag keine Zeit hätten.

Bei S. gibt es immer einen Moment, der alles wendet und in dem es mir reicht. Das hier war er für dieses Mal. Ich frage mich, ob ich blöd bin, dass ich mich immer wieder enttäuschen lasse, oder ob das nun einmal einfach so sein muss, wenn sich zwei Menschen begegnen. Normalerweise interessieren mich Kontostände nicht - nicht unter Freunden. Aber in diesem Fall macht es mir was aus.

Es sind immer nur leere Versprechen. Die mit ihr verbrachte Zeit hat mir immer viel bedeutet. Aber was nützt das, wenn ich für sie nur ein Termin bin? Lieber wär's mir, sie verspräche nichts mehr.

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Donnerstag, 28. Mai 2015
Schreibpause
Auf dem Fahrrad heute morgen fiel mir auf, wie wenig ich mich derzeit mit allem beschäftigen mag, was mit Kopfarbeit zu tun hat - Denken, Schreiben, Dinge in Worte fassen. Ich bin kommunikationsfaul, was denjenigen Menschen Unrecht tut, die schon längst mal wieder einen Gedanken, ein Wort von mir hätten bekommen sollen.

Ich denke über vieles nach, aber nichts gelangt zur Ausdrucksreife. Themen schimmeln in meinem Oberstübchen vor sich hin, das eine ist mir nicht weniger wichtig als das andere - und dabei bleibt es dann auch.

Zur Zeit gefällt mir mehr das Unmittelbare. Der Mai platzt aus allen Nähten, auch wenn er hier nicht gerade das wärmste Wetter zu bieten hat. Der Wind geht durch die langen Gräser am Wegrand, die Kastanien blühen und ich möchte mich daran einfach nur betrinken. Es ist wunderschön.

Ich verordne mir jetzt eine Blogpause bis auf Weiteres und tauche mal für ein Weilchen ins wahre Leben ab. Bis später!

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Mittwoch, 28. Januar 2015
"Normal ist das nicht..."
Es war das erste Mal überhaupt in meiner Geschichte der Erfahrung mit Ärzten, dass jemand mich knapp, eloquent und unkompliziert ernst genommen hat in der Aussage, ich sei immer müde und erschöpft und fertig. Ich habe erzählt, wie es ist, wenn ich nach der Arbeit nur noch auf das Sofa falle und mich zu nichts mehr in der Lage sehe.

"Nein", sagte der Endokrinologe meiner Wahl beim heutigen Besuch, "in Ihrem Alter ist das nicht normal. Sie sollten eigentlich fröhlich hier herumhüpfen und sich gut fühlen."

Keine blöden Empfehlungen, für Entspannung und Stressreduktion zu sorgen, vielleicht Yoga zu machen oder Autogenes Training. Statt dessen ernste, aufrichtige Aufmerksamkeit, klare Notizen, die Anordnung von Tests und ein kräftiger Händedruck zum Schluss. Ergebnisse in zwei, drei Wochen.

Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit in dieser Sache das Gefühl eines Silberstreifs am Horizont.

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Dienstag, 26. August 2014
Ausgelaugt.
Ich habe mein Schlaf- und Wachverhalten immer auf meine Veranlagung geschoben, mangels besserer Erklärung. Vollkommen Abstand nehmen davon werde ich auch nicht, weil ich der Auffassung bin, dass Menschen eben unterschiedlich sind und nicht jeder sich gleichermaßen dem Diktat von Wecker und Stechuhr beugen kann, ohne dass das irgendeinen Effekt hat.

Für mich ist jetzt in meiner ersten Urlaubswoche seit langem das größte Geschenk, ausschlafen zu können. Ich hasse dieses gnadenlose Piepen, dass mich jeden Morgen aus dem Schlaf reißt. Es bereitet mir beinahe körperliche Schmerzen. Zur Zeit schlafe ich nicht bis mittags, so wie es früher zu Studienzeiten war, sondern bin meistens zwischen acht und neun Uhr ausgeschlafen. Dann ist der Tag noch jung, und ich bin zufrieden.

Und die Ruhe. Nichts zu müssen ist gerade ganz ausgezeichnet. Es geht alles nach meinem eigenen Takt.

Natürlich ist es wichtig für mich, für diesen eigenen Takt Verständnis aufzubringen und ihn als Teil von mir selbst anzunehmen. Dennoch glaube ich, meine Schwierigkeiten beruhen nicht allein auf meinen Eigenheiten, die sich mit diversen Anforderungen nicht in Einklang bringen lassen.

Zur Zeit fühle ich mich dürr und trocken und wie aus Pergament, was sich erst seit dem letzten Wochenende ein kleines bisschen milderte. Meine Haut ist wie Sandpapier, meine Haare sind struppig und trocken, die Ringe unter meinen Augen sind dunkel und ich fühle mich beinahe jeden Tag, als hätte ich einen Marathon hinter mir.

Beim letzten Check-up bescheinigte mir die Frau Doktor ja vollkommene Gesundheit - nur warum lässt sich das mit meinen Empfindungen nicht in Einklang bringen?

Empfindungen überhaupt, so im Zusammenspiel mit Ärzten, sind eine heikle Sache. Mein Besuch bei der Endokrinologin brachte nämlich auch keine weiteren Resultate. Ich hatte die Schilddrüse im Verdacht, der mir aber nicht bestätigt wurde. Ich bin einfach nicht der Typ Mensch, der dann vorm Schreibtisch des Mediziners sitzt und ihm sagt, was er bitte für Werte abprüfen soll.

Eines hätte ich im Kontakt mit beiden Ärztinnen tunlichst vermeiden sollen: Meine zum damaligen Zeitpunkt noch aktuelle Arbeitslosigkeit zu erwähnen. Denn dann kam der lapidare Satz: "Ach, dann ist es doch vermutlich der Stress!" Es nützt dann auch nichts, weiterhin auf dem eigenen schlechten Befinden zu bestehen, man bekommt Yoga-Kurse und anderweitige Stressreduktion empfohlen, und das war's.

Ich muss mir Krankheit nicht selbst andichten, ich bin gern gesund. Aber die Diskrepanz zwischen meinem subjektiven Empfinden, dass da was ganz gewaltig schief hängt, und den unter bestimmten Voraussetzungen ermittelten Laborwerten ist für mich ein vollkommenes Unding. Bislang hat mich noch niemand als Hypochonder abgestempelt - dafür klage ich wohl auch zu wenig und gehe zu selten zum Arzt. Aber was ich täglich erlebe, ist für mich selbst schwer zu ignorieren, und ich weigere mich, es als normal zu betrachten.

Beispielsweise, dass mir in erklecklichem Maß die Haare ausgehen zur Zeit. Da hilft auch noch kein so schön formulierter Rat zur Haar- und Kopfhautpflege. Dass mich aus dem Spiegel ein so müdes Gesicht anschaut. Dass ich es einfach nicht schaffe, morgens aus dem Bett zu kommen und dann, wenn ich halb schlafend im Bad stehe, erst einmal eine Tasse Kaffee als Booster brauche. Ließe sich ja noch erklären, wenn ich die Nächte durchmachte. Ist aber nicht der Fall. Dass meine Hände stark zittern, wenn ich mich unter Beobachtung oder vor einer wichtigen Aufgabe befinde (was bereits mehrmals auch mein Abteilungsleiter bei der Arbeit bemerkte und anmerkte).

Was mir an den zu Rate gezogenen Ärztinnen fehlte, war die Bereitschaft, gemeinsam mit mir der Ursache meiner Beschwerden auf den Grund zu gehen. Da ist offenbar ein erhebliches Maß an Bequemlichkeit, und stimmt ja, Reden wird einem auch nicht so gut bezahlt wie Apparatemedizin. Fast vergessen.

Also recherchiert man selbst. Die Schilddrüse wäre eine logische, aber dennoch nicht zu hundert Prozent passende Erklärung gewesen. Jetzt habe ich einen Termin bei einem endokrinologischen Ärztezentrum. Allerdings erst im Januar, denn eher ging's nicht. Man hat die Auswahl zwischen Terminen bei mittelmäßig motivierten und qualifizierten Ärzten in der Nähe oder Fachleuten weiter weg, dann aber erst in einem halben Jahrzehnt.

Ich las dem Gatten die Liste der Symptome vor, die bei einer Nebennierenschwäche bzw. -insuffizienz vorliegen. Der meinte wie aus der Pistole geschossen: "Ja, das ist meine Frau!" Drauf gestoßen bin ich eher per Zufall, fand dann aber auch Hintergrundinfos dazu auf der Seite des besagten Ärztezentrums, zu dem ich ohnehin schon wegen des Schilddrüsenverdachts hätte gehen wollen. Da liegt also zumindest Klärung, wenn nicht gar Lösung in zeitlicher Erreichbarkeit.

Interessant an all dem ist, dass die Ursachen für diese Problematik im permanenten Dauerstress liegen können, der irgendwann die Nebennieren erschöpft und an einer regelrechten Tätigkeit hindern kann. Diese Erklärung ist die erste, die sinnvollerweise mal nicht Ursache und Wirkung verdreht. Meiner Auffassung nach sind auch Depressionen nicht durch eine Störung der Hirnchemie bedingt, sondern es verändert sich der gesamte Stoffwechsel als Anpassungsleistung an äußere Faktoren. Man kann einen Körper eben auch nicht ausquetschen wie eine Zitrone, ohne dabei wie auch immer geartete Auswirkungen auf der Rechnung zu haben.

Gut ist: Wenn es nur eine Nebennierenschwäche, keine Insuffizienz ist, dann ist das reversibel und ich habe tatsächlich eine Hoffnung auf mittel- bis langfristige Besserung. Dann wäre ich noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen.

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Donnerstag, 24. Juli 2014
Der Unterschied
Über die Notwendigkeit von Erwerbsarbeit lässt sich natürlich trefflich streiten. Das lasse ich aber mal an dieser Stelle. Fest steht eines: Seit Antritt meiner neuen Stelle geht es mir ausgezeichnet.

Während meiner gesamten Zeit in der Werbeagentur hatte ich nagende Zweifel an allem. Reicht mein Engagement? Werde ich die Erwartungen erfüllen? Werde ich mit der Kollegin irgendwann klarkommen? Muss ich an meiner Persönlichkeit arbeiten? Bin ich tatsächlich so sozial unfähig, wie ich hingestellt werde? Und andererseits: Werde ich auch irgendwann einmal halbwegs pünktlich nach hause kommen? Werde ich irgendwann wieder ein- und durchschlafen können, ohne zu grübeln? Werde ich wirklich etwas lernen können? Ich könnte noch viel mehr auf die Liste setzen.

All diese schweren, schwarzen Bedenken haben sich in Luft aufgelöst. Da ist ein Unterschied. Dies ist der Unterschied:



In meinem neuen Betrieb werden sich die Finger schmutzig gemacht. Dieser Pott "Grüne Tante" - ein Klassiker, den alle kennen, die öfter mal groben Dreck von der Haut entfernen müssen - steht auf dem Damenklo am Waschbecken und versinnbildlicht für mich den einen gewaltigen und gewichtigen Unterschied zwischen meinem alten und meinem neuen Betrieb: Hier ist sich niemand für irgendeine Arbeit zu fein.

Natürlich gibt es Hierarchien und Hackordnungen, und manches wird sich mir nach anderthalb Monaten einfach noch nicht erschlossen haben. Aber die Menschen um mich herum sind Handwerker, ganz gleich, ob sie jetzt mit dem Kopf oder den Händen handwerken. Da gibt's nicht viel Schickimicki.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Ex-Kollegin auf ihren Givenchy-Stilettos in unsere Produktionshallen gestolpert käme, gebührend bewundert vom umstehenden Publikum in Jeans und Firmen-T-Shirts, und ihr Näschen über den Duft von Lösemittel rümpfen würde. Ich schmunzele. Aber dabei bleibt es dann auch.

Ich befinde mich jetzt in einem Umfeld, in dem ich wirklich etwas lerne, in dem man mir Dinge zutraut, in dem zwar kritisiert, aber nicht gelästert wird. In dem aber auch niemand solche Sätze sagen würde wie "Ich brauche das nicht zu tun, denn ich bin hier die Kreative!" Es zeigt mir (ähnlich wie die in meiner Berufsschulklasse entstandene Gemeinschaft), dass ich keine soziale Legasthenikerin bin.

Ich freue mich. Dieses reibungslose Funktionieren und angenehme Arbeiten macht die erlebten Zweifel obsolet. Nicht ich bin diejenige mit dem Dachschaden. Ich kann zurückblicken und die Episode Werbeagentur als eine schwierige Zeit verbuchen, nach der ich immer noch auf meinen beiden Beinen stehe und einiges über mich selbst jetzt besser weiß.

Ich mag "Grüne Tante". Tausendmal lieber als Armani.

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