Sturmflut
Donnerstag, 28. April 2011
Mauern, Gräben und Schubladen
Manchmal denke ich, ich bin ein Einzelkind. Die Lebenswelt meiner einzigen Schwester ist der meinen so fern, dass sie auch eine Fremde sein könnte. Wir haben so wenig gemeinsam. Dabei sind es nicht die Äußerlichkeiten.

Ich habe mir abgewöhnt zu glauben, die ganze Welt verstünde mich nicht. Unter anderem besonders, seit ich hier blogge. Ich erlebe das Gegenteil, und das ist eine erstaunliche und bereichernde Erfahrung. Besonders der Umgang mit Vertrauen und Offenheit ist ein Kapitel für sich. Ich machte nur den Fehler, den daraus resultierenden Optimismus auch auf meine Schwester zu übertragen. Der Fehlschluss lautet: "Wenn ich offen bin, zu meinen Gefühlen und meiner Haltung stehe, authentisch bin und weitgehend angstfrei, dann wird es mir auch gelingen, mit ihr in Beziehung zu treten." Der Wunsch ist nicht so abwegig, bedenkt man, dass ich nur diese eine Schwester habe. Die Erkenntnis schmerzt, dass ich mit meiner Annahme in dieser speziellen Hinsicht falsch lag.

Als ich meine Schwester das letzte Mal traf, traute ich mich zum ersten Mal in meinem Leben, offen über meine Gefühle zu sprechen. Bis dahin hatte ich in angespanntem Misstrauen verharrt, denn ich war mir der Tatsache bewusst (und bin es noch immer), dass sie dazu neigt, ihr in persönlichen Augenblicken Anvertrautes an Dritte, besonders gern aber an die Eltern weiterzugeben und/oder das Besprochene gegen mich zu verwenden. Das tut sie durch plötzliche gehässige Kommentare und Spitzen, die äußerst beißend und verletzend sein können. Dennoch war ich an einem Punkt, an dem ich mich fragte, was ich wohl noch zu verlieren hätte. Schließlich ist mein Wohl und Wehe nicht länger von ihrem Urteil abhängig, und gerade was die Eltern betrifft, haut mich sowieso nichts mehr aus den Schuhen. Alles, was ich jemals in dieser Sache verbaseln könnte, habe ich schon gründlich verbaselt und fühle mich dabei so großartig wie nie zuvor. Vor diesem Hintergrund schlich sich bei mir langsam eine ungeahnte Leichtigkeit und Gelassenheit ein. Lohnend, wie sich herausstellte, denn nach besagtem letzten Treffen, das mit ihrem kleinen Söhnchen in einem netten Lokal am See stattfand, bemerkte ich, um wie vieles entspannter ich nach hause ging und wie viel weniger ich mir den Kopf zerbrach darüber, was sich wohl meine Schwester über mich denken mochte und wie sie sich später hinter meinem Rücken in anderem Kreise darüber äußern würde.

Es ist also kein Risiko mehr für mich, einfach die zu sein, die ich bin. Selbst nicht in Gegenwart meiner Schwester. Aber die Illusion von echtem Kontakt, von wirklicher Beziehung zu ihr löste sich gestern in Rauch auf. Ich traf sie mit ihren Kindern zu einem Besuch im Tierpark. Ich hatte wohl die zarte Hoffnung gehegt, wir seien einander näher nach den letzten Gesprächen. Nachdem ich erzählt hatte von meiner Verzweiflung und Depression, von Missbrauch und Therapie, von meinen Gefühlen die Eltern betreffend, von meinen Schwierigkeiten und Eigenheiten, hatte ich wohl gemeint, irgend etwas müsse nun anders sein zwischen uns. Aber das war es nicht. Ihre Umarmung blieb reserviert, die Gesprächsthemen oberflächlich und vor allem spürte ich wieder einmal ihre Vorbehalte gegen mich und meinen Gatten (der wohl in ihren Augen ein humorloser, kontaktgestörter Kotzbrocken sein muss). Ja, und ich merke dann wieder: Es macht mir was aus! Auch wenn ich das nicht wie früher auf meine eigene Mangelhaftigkeit zurückführe, was schon mal ein Fortschritt ist.

Es sind die Mauern und Gräben zwischen uns, die mir doch irgendwie weh tun. Ich habe mich gezeigt, ein Stück weit entblößt, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was in meiner Schwester vor sich geht. Ich merke, während ich dies schreibe, dass ich sie auch nicht danach gefragt habe. Aber nicht, weil ich mich nicht getraut hätte. Es war bis jetzt undenkbar und daher auch ungedacht. Sie war immer Überlegenheit pur, bislang. Die Ältere, die Klügere, die Wissendere und auch diejenige, die die Standards setzte bezüglich dessen, was zu fühlen und zu erleben angemessen war und was nicht. Vielleicht schmerzt diese Rigorosität mich jetzt um so mehr, da ich merke, was alles gefühlsmäßig möglich ist, wenn man sich erst einmal auf den Weg macht, die absolut geglaubten Schranken zu überschreiten.

Jetzt allerdings bin ich in der Lage, die gesamte Situation zu quittieren mit dem Satz "Ich weiß ja, aus welchem Stall sie kommt!", was ich dann auch gestern abend prompt dem Gatten gegenüber tat. Diese Aussage ist weit weniger gehässig gemeint, als sie anfänglich vielleicht klingen mag. In der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte habe ich selbst erfahren, woher die Mechanismen stammen, die unser seltenes Zusammensein (und offenbar auch ihr ganzes Leben) prägen. Ich kenne den übermächtigen Drang, sich selbst zu schützen. Ich kenne den Rückzug in den Kopf, den man immer dann antritt, wenn Fühlen zu gefährlich erscheint. Ich kenne die Herablassung und Abwertung anderen gegenüber, die dazu dient, das eigene, mühsam errichtete Lebensgerüst stabil zu halten. Weil das so ist, habe ich großes Mitgefühl mit ihr. Aber ich widerstehe dennoch der Versuchung, ihr ihre vermeintlichen Fehler oder Hindernisse vor Augen zu führen und ihr missionarisch einen besseren Weg aufzeigen zu wollen. Ich weiß auch das aus eigener Erfahrung: Wenn sich etwas ändern soll, dann muss es aus ihr selbst heraus geschehen.

So lange werde ich wohl irgendwie damit umzugehen lernen, dass meine Schwester unnahbar bleibt. Dass sie die Menschen in ihrem Umfeld harsch be- und entwertet (und ich habe nur eine ansatzweise Ahnung, in welchem Umfang sie dasselbe in ihrem eigenen Inneren tut). Dass sie für alle und alles unbedingt eine Schublade braucht. Dass Begegnungen mit ihr ohne wirklichen Kontakt bleiben, die Beziehungen ohne Tiefe. Dass Lebendigkeit in ihrer Gegenwart schwierig wird, sich Vielfalt auf ein Richtig und Falsch reduziert, Unbefangenheit, Spontaneität und Authentizität der Starre weicht.

Schlimm ist es, wenn ich mir meine kleine Nichte anschaue. Der Spielplatz des Tiergartens ist voller Kinder, die so sind, wie sie sind, wenn sie spielen. Dazwischen die kleine Maus, verschüchtert, leise, nachdenklich und so wenig Kind, dass es mir Angst macht. Sie ist ein Kind, das garantiert niemals irgendwo verloren gehen wird, weil sie gar nicht auf den Gedanken kommt, neugierig zu sein. Sie ist sauber, still und angepasst und schaut sich dreimal um, bevor sie den ersten Fuß in den tiefen weißen Sand des Spielplatzes setzt. Mein Beschützerinstinkt meldet sich, ich möchte sie ein wenig schubsen und sagen: "Lauf, und lebe!" Ich beiße mir auf die Lippe. Auf der Schaukel frage ich sie: "Schaukelt Mama auch manchmal mit Dir?" "Nein," sagt sie mit ihrem hauchdünnen Stimmchen, "Mama schaukelt mich nur an."

Ich wünsche meiner Schwester, dass sie auch mal schaukeln geht.

Meine Musik des Tages:
Marc Cohn - One Safe Place

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Mittwoch, 20. April 2011
Endlosschleife
Ich bin so müde. Wie kann man so müde sein?

Ich weiß, dass dieses bleierne Gefühl mich immer dann überkommt, wenn es innerlich nicht weitergeht, wenn ich etwas wegschließe oder nicht bewältigen kann. Dieses Mal ist es Streit.

Ich bin nicht schlecht im Streiten. Das sind wir beide nicht. Meistens kommen wir zu einer für beide befriedigenden, konstruktiven Lösung. Aber in der letzten Zeit habe ich mehr und mehr das Gefühl, bei Streits immer diejenige zu sein, die sich mehr kontrolliert, mehr selbst kritisiert, mehr selbst beobachtet, die öfter klein beigibt, mehr Zugeständnisse und weniger Vorwürfe macht, die versucht, ihn zu verstehen. Ich habe das Gefühl, meine Bedürfnisse spielen keine Rolle. Ich habe Angst, mich zu verlieren. Gleichzeitig ist der Zorn in mir manches Mal so groß, dass ich am liebsten schreien würde. Aber ich weiß, das führt zu nichts. Ich habe schon so oft geschrien, und außer dem sandigen Gefühl in der Kehle blieb davon nichts zurück.

Das Problem ist fast immer meine Wahrnehmung. Ich bin anscheinend ein wirkliches Sensibelchen. Ich kann mich seinen Stimmungen nicht entziehen. Manchmal sitze ich da und versuche nur, sie wertfrei zu beobachten, ihnen mit Gelassenheit zu begegnen oder sie im schlechtesten Fall zu ignorieren. Aber irgendwann erfasst mich doch der Strudel. Ich fühle mich verantwortlich für sein Befinden, fühle mich dafür verantwortlich, Verständnis für ihn und sein Handeln aufzubringen, und der Druck dazu ist so groß, dass ich es kaum aushalte. Gleichzeitig schreit es in meinem Inneren: "Und wer denkt an mich? Wer kümmert sich um meinen Zorn? Um mein Gefühl, ungerecht behandelt zu werden und immerzu nur einzustecken? Wieso walzt er wieder über mich hinweg, wieso sieht er wieder nur noch rot?"

Manchmal stinkt's mir. Wenn er seine "Alle haben es auf mich abgesehen"-Phase hat. Oder wenn er die ganze Welt einfach nur schlecht findet, was mich mit einschließt. Wenn er aggressiv wird. Ich kann es spüren, aber ich kann es nicht benennen. Er fragt: "Was habe ich getan?" Und dann kann ich immer nur von meinem eigenen tiefen Unbehagen sprechen, von der Spannung, die ich spüre. Von seiner Hektik, die mich ansteckt, seiner Aktivität, die mich überrollt. Von den finsteren Wolken um seinen Kopf, die irgendwann auch meinen Blick verschleiern. Von seiner Wut, die mich erschreckt.

Mir kriecht die Erschöpfung im Körper hoch, durch die Kehle bis in die brennenden Augen. Mir kommen die Tränen, und mein innerer Analyseapparat schaltet wegen Überhitzung ab, und dann kann ich es nicht mehr fassen. Ich begreife es nicht. Weder, wenn ich mich auf eigene innere Spurensuche mache, noch wenn ich versuche, zu verstehen, was in ihm vorgeht. Irgendwann sind wir am Ende beide so ausgelaugt und unendlich traurig, dass wir einander nur sagen können: "Es tut mir Leid, ich wollte nicht, dass es so weit kommt...!" Und ein paar Minuten später, wenn nach einer Schweigepause die Kraft wieder zugenommen hat, folgt das "Aber...!" Alles dreht sich wieder weiter.

Ich bin so müde.

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Freitag, 25. März 2011
Ich! Hasse! Giersch!!
Während auf dem Bürgersteig bei vereinzelten Sonnenstrahlen und Höchsttemperaturen von 14°C einige Teenager in Röckchen, die den Namen nicht verdienen, ihr erstes Schaulaufen des Jahres veranstalteten, saß ich im Beet und machte Frühjahrsputz (Teil 1 von ?).

Resultat des Tages:

Ausflug in die Großgärtnerei und Flanieren durch die warmen Gewächshäuser.


Neuanschaffung von vorgezogenen Stauden: 5 Töpfe Lupinen in blau und weiß, 3 Töpfe Herbstastern in blau, 2 wunderbare blaublättrige Hosta für die Terrassenkübel. Saaten für Bohnenkraut und Koriander.


Ca. 6 x 1½ Meter Beet umgewälzt und gefühlte 100 Tonnen Biomasse an Giersch samt Wurzeln zutage gefördert. Sag mir bitte keiner, dass sich aus Giersch super vitaminreicher Salat machen lässt. Ich weiß das. Ich hasse ihn trotzdem.


Mir tun Knie und Rücken weh, ich bin hundemüde, aber es fühlt sich irgendwie gut an.

Meine Musik des Tages:
Amos Lee - Street Corner Preacher

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Freitag, 25. Februar 2011
Rotterdam Centraal Dagretour
Irgendwie sind wir immer beschäftigt mit Wenns und Danns und Plänen, die sich erfüllen können, wenn erst bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Bevor wir etwas haben oder tun können, das uns am Herzen liegt, müssen wir vor allem erst Zeit und Geld haben, es auch zu tun.

Sich darüber hinwegzusetzen, fühlte sich für mich reichlich eigenartig und fast schon ein bisschen fremd an, obwohl es eigentlich keine "große Sache" war. Am Mittwochmorgen in aller Herrgottsfrühe setzte ich mich in den Zug nach Rotterdam, um einen mir lieben Menschen zu treffen und endlich, endlich persönlich kennenzulernen. Sie lebt in der Schweiz und hatte in Belgien zu tun, und so schrie mir die Gelegenheit ins Gesicht: "Pack mich am Schopf! Sofort!!"

Jeder normale Mensch, der halbwegs beieinander ist, kann sich für zweieinhalb Stunden in den Zug setzen, um an einem wenig weit entfernten Ort jemanden zu treffen. Aber es war dennoch ein wunderbares Wagnis. Es war ein Tag, der sich anfühlte wie mindestens drei auf einmal. Nach so vielen Mails, Fotos und SMS war es etwas besonderes, sie in den Arm zu nehmen und ihre strahlenden Augen zu sehen, und ja, ein wenig aufgeregt war ich vorher auch. Es war spannend, nach Wochen und Wochen von Arbeit in immer der selben wintergrauen Kleinstadt und in den eigenen - zugegebenermaßen behaglichen - vier Wänden endlich mal etwas anderes zu sehen, auch wenn es in der Hauptsache Graffitys, Baustellen, vermatschte Kleingärten und verwehter Müll an der Bahntrasse war. Es war schön, einmal wieder eine andere Sprache zu sprechen und festzustellen, dass auch das geht und dass ich sogar recht gut Konversation machen kann.

Die Erwartungen an Rotterdam waren niedrig. Als ich das letzte Mal dort war, regnete es in Strömen, und ich hatte wenig Geld in der Tasche und viel Zeit herumzukriegen. Dieses Mal war es hell und bis auf ein paar schüchterne Schneeflocken trocken. Die Stadt war viel hübscher als vermutet und erinnert. Und ich war längst nicht so leutescheu wie beim letzten Mal Großstadt, auch wenn die Züge wegen der Krokusvakantie überfüllt waren.

Wir saßen in einem Restaurant nah der Erasmusbrug und schauten zusammen über die grauen Wellen und redeten und redeten. Ließen uns von der Tram durch die Gegend schaukeln. Redeten noch mehr, hätten ewig reden können. Am frühen Abend fuhren unsere Züge in unterschiedliche Richtungen davon, wir winkten einander und waren schließlich andere Menschen als zuvor.

Mich berauscht mein Vertrauen. Nicht nur die Tatsache, dass das Vertrauen in diesen Tag gerechtfertigt war und nicht enttäuscht wurde, weder von Menschen noch von Orten - was zugegebenermaßen eine schöne Erfahrung war. Sondern hauptsächlich, dass ich es einfach getan habe, dass es keine Wenns und Danns gab, die mich davon abhielten und dass ich spüren konnte: Ich kann... Fortgehen, zurückkommen, verabschieden, willkommen heißen und geheißen werden. Es reicht einzig und allein, dass ich es will. Der Dank dafür war ein Tag wie ein großes Geschenk, einfach so.

Die Musik dieses speziellen Tages:
Bløf - Mooie dag

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Mittwoch, 9. Februar 2011
Das Männlein
In der Nähe meines Arbeitsplatzes gibt es eine kleine Bäckerei, ein schmaler Laden, beinahe nur so breit wie die Eingangstür. Der leistet mir, was öfters mal vorkommt, bei knurrendem Magen oder Heißhunger auf Süßes, Abhilfe. Ich stehe also morgens irgendwann von meinem Platz auf mit den Worten "Jemand was vom Bäcker?", und wenn dann die Auftragslage klar ist, verschwinde ich mal kurz die paar hundert Meter die Straße runter, um mir pappige Weißmehlbrötchen oder Donauwellen vom Vortag verpassen zu lassen.

Oft wartet dann auf dem Bürgersteig schon das Männlein. So nenne ich insgeheim den alten Herrn in grauem, knielangen Kittel mit Schiebermütze, der fast täglich dafür sorgt, dass Geh- und Radweg vor seinem Haus pikobello sind.

"Naaa, junge Frau? Habense Kuchen mitgebracht?" fragt er immer mal wieder. Und dann bleibe ich stehen, mit dem Portemonnaie und Brötchentüten in der Hand und er stützt sich auf seinen Besen und wir plaudern ein paar Minuten. Über dies und das. Er ist neugierig und verschmitzt, manchmal glaube ich sogar, er flirtet ein bisschen.

Er erzählt, dass er in dem Gebäude zur Schule gegangen ist, in dem heute der Hauptsitz der Firma ist, bei der ich arbeite. "Ich bin gern zur Schule gegangen!" sagt er, ""Du musst besser aufpassen!" hat der Lehrer gesagt, aber wir sind nie geschlagen worden. Das war eine schöne Zeit." Er fragt mich, ob ich Kinder habe. Ich verneine. "Nööö," meint er, "das muss ja auch nicht sein. Lassen Sie mal, so haben Sie viel mehr Freiheit!" Endlich mal einer, der einen nicht dafür verurteilt. Von dem alten Herrn hätte ich das zugegebenermaßen am wenigsten erwartet.

Gestern erzählt er von seiner Frau, die plötzlich vor einem Jahr morgens tot neben ihm im Bett gelegen habe. Die alten Augen werden feucht, und wir sind uns einig, dass das Leben beileibe nicht immer schön ist. Er vermisse sie, sechzig Jahre seien sie verheiratet gewesen. Seitdem müsse er alles allein machen - spülen, fegen, aufräumen. Aber immerhin, ab und an komme ihn der Sohn besuchen - der eine, denn der andere sei auch schon tot.

Im nächsten Moment fängt er sich wieder, schaut mich mit glitzernden Augen an und dann auf die Bäckerei-Tüte, und er fragt: "Habense denn auch 'nen Kaffee dazu? Prima! Na denn mal guten Appetit..."

Später, als ich mich nach Feierabend mit la bicicletta auf den Heimweg mache, steht er wieder auf dem Gehweg und schaut den Angestellten der Stadt beim Bäumesägen zu. Und nimmt die Mütze vom Kopf und winkt mir damit.

Seine leise, weise Art bedarf keiner Analyse. Ich mag das Männlein.

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Mittwoch, 12. Januar 2011
Das Ende einer Ära
Zwei Jahre.
Zwei Sessel.
Zwei Menschen.



Ich danke Ihnen, Mr. F., für alles.

Meine Musik des Tages:
Sia - Breathe me

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Mittwoch, 22. Dezember 2010
Jahresbilanz
Meine persönliche Bilanz 2010...

Ich weiß, es ist eigenartig, wie ein schlichtes Datum einen dazu bringt, sich einen Überblick verschaffen zu wollen. Und eigentlich noch ein bisschen früh, das Jahr hat ja noch ein paar Tage. Aber mir war danach.

schön:
  • Noch mehr Vertrauen probiert und genossen.
  • Nie wirklich allein gewesen.
  • Geliebt und geliebt worden.
  • Intensive Nähe zugelassen.
  • Sehr klar geträumt und allerhand daraus geschlossen.
  • Wütend geworden.
  • Antworten erhalten.
  • Tiefe Erkenntnisse gewonnen.
  • Augen aufgemacht und noch genauer hingesehen als im Jahr zuvor.
  • Meine Grenzen nicht länger so hart verteidigen müssen.
  • Die Haushaltslage erheblich verbessert...
  • Arbeitsbedingungen erheblich verbessert...
  • Angst überwunden.
  • Gesungen. Laut. Genussvoll.
  • Katzenfell und Samtpfoten gestreichelt.
  • Geschrieben.
  • Unerwartete Freude am Kochen gefunden.
  • Urlaub geplant und schon mal darauf gefreut und davon geträumt.
  • Immer wieder die Gegenwart ganz besonders lieber Freunde genossen.
  • Gelernt, das Gestern vom Heute zu trennen.
  • Gelernt, nicht mehr so tief und hart zu fallen.
  • Öfter um Hilfe gebeten.
  • Überraschend wieder einmal Tante geworden.
  • Kreativ gewesen und den Anspruch überwunden, gut dabei sein zu müssen.
  • Mit Tai Chi begonnen.
  • Meiner Wißbegierde nachgegeben und wieder mal die halbe Bibliothek ausgeliehen.
  • Mehr im Hier und Jetzt gelebt.
  • Maßstäbe hinterfragt.
  • Mehr gelacht als letztes Jahr.
schwierig/schade:
  • Nicht auf meiner Insel gewesen.
  • Tiefe Traurigkeit gespürt, Einsamkeit, Verloren- und Verlassensein erinnert.
  • Viele Umwege gemacht.
  • Mit dem Gefühl gekämpft, niemals genug Zeit zu haben.
  • Mich in Diskussionen verzettelt, die mir eh nichts brachten.
  • Mich im Kreis gedreht.
  • Einige sehr heftige Talfahrten durchlebt.
  • Mich verkrochen und geschwiegen.
  • Schultern hochgezogen. Kopf eingezogen.
  • Angst gehabt.
  • Enttäuschungen erlebt, obwohl ich damit rechnen konnte.
  • Nicht mit meiner Schwester verbündet.
  • Bestimmte Freunde nicht so oft gesehen, wie ich es gewollt hätte.
  • Vergangenes betrauert und von manchem Abschied genommen.
  • Eine schwerwiegende Trennung ins Auge fassen müssen, die gleich im neuen Jahr geschehen wird.
  • Von jemandem (zu) lange nichts gehört.
Was mir ins Auge fällt: Der "schön"-Teil ist in diesem Jahr länger als der "schwierig/schade"-Teil.

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Freitag, 17. Dezember 2010
Not so close encounter...
Gestern sah ich meinen Vater. Nach zwei Jahren. Zufällig. Ich war am Bus-Bahnhof gerade in meinen Bus gestiegen, bepackt mit Einkäufen und in Gedanken schon zuhause, da lief er, rechts neben mir. Es trennte uns nur die beschlagene Fensterscheibe (und die zunehmende Geschwindigkeit des Busses). Er bemerkte mich nicht.

Ich hatte fast vergessen, wie er aussieht und auftritt. Hochgewachsen, eloquent und selbstbewusst wirkend, trotz der Kälte nur in Hemd und Pullunder, einen Umschlag unter dem Arm geht er in Richtung Parkhaus - ganz der charmante und charismatische Mann, den alle kennen. Meine Gefühle bei seinem Anblick sind vielschichtig.

Es ist tiefe Trauer darüber, keinen Vater zu haben. Nicht so einen, wie ich gern hätte und gebraucht hätte. Die Trauer darüber, dass sich hinter dieser aufregenden, anziehenden Fassade ein vollkommen hilfloser kleiner Junge verbirgt, der schon genau deshalb kein Vater sein kann. Trauer darüber, dass da auch der gedanken- und rücksichtslose Narzisst ist, der sich an den Menschen in seinem Umfeld ohne jegliches Mitgefühl befriedigt. Das eine bedingt wohl das andere.

Dann war da aber auch noch ein anderes Gefühl, eines, das ich niemals vorher gespürt habe. Es war das Gefühl von Erleichterung und innerer Unabhängigkeit. Dieser Mensch kann und wird mir niemals mehr weh tun, weil ich es nicht zulasse. Ich bin endlich frei und ruhig genug, dass mich sein Anblick nicht mehr aus der Bahn wirft. Es ist keine Angst mehr da, ich kann ihn sehen, wie er wirklich ist. Ich weiß, dass er zwar fürchterlich, aber nicht wirklich zum fürchten ist, mein Vater. Er ist ein alternder Mann mit grauen Schläfen und tiefen psychischen Defiziten und nicht der allmächtige Pater Familias, von dem mein Wohl und Wehe abhängt.

Ein bisschen Trauer wird immer bleiben. Aber ich bin befreit von dem Zwang, ihn und seine Liebe und Anerkennung in anderen Menschen finden zu wollen. Endlich muss ich nicht mehr immer wieder dieselben Fehler mit dem ewig gleichen Typ Mensch machen. Mein Menschen- und Männerbild ist zunehmend vater-entzerrt (wenngleich auch nicht immer und in jeder Lebenslage).

Beim Anblick der durch die Innenstadt wogenden Menschenmasse wird mir klar, dass hinter jedem all dieser Menschen möglicherweise eine solche Geschichte stecken kann. Zufällige Begegnungen, die Angst oder Freude auslösen können. Gesichter, die Erinnerungen wecken. Es beruhigt mich. Denn schließlich ist ein Gesicht eben auch nur ein Gesicht. Mein Vater, so bedeutungsvoll für mich, ist für alle anderen zufällig vorbeiflanierenden Leute einfach nur ein zu lang geratener Mittsechziger mit Schnurrbart in Allwetterjacke - beliebig, bedeutungslos. Was ich betrauere ist denn auch nicht der Verlust dieser Person, sondern der Verlust eines Ideals. Ich glaube, damit kann ich leben.

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Mittwoch, 1. Dezember 2010
"Ich entscheide...
...wer mich beleidigt!"
Ach, wie schön wäre das, wenn es mir gelingen würde, diese Haltung zu leben.

Kleiner Überblick: "Wer glaubt, dass Abteilungsleiter Abteilungen leiten, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten." - diese sinnige Aussage trifft auf die Situation mehrerer Kollegen einer anderen Abteilung zu, die sich mit uns das Büro teilen. Über die mangelnden Fähigkeiten besagten Zitronenfalters in den Bereichen Leitung, Durchsetzungsvermögen, Problembewältigung und Interessenvertretung wird sich denn auch regelmäßig ausgetauscht. Er ist ein Weichei, um es mal schlicht auf den Punkt zu bringen. Jemand, der am laufenden Band über die Zumutungen und Anforderungen seiner Arbeit lamentiert, aber nichts tut, um daran etwas zu ändern, aus Angst davor, anzuecken und das warme Mäntelchen allseits zustimmenden Lächelns ablegen zu müssen. Er quittiert viele Probleme, die sich im Arbeitsprozess ergeben, schlussendlich mit einem lahmen "Ich mach' nur noch, was man mir sagt!". Unter Leitung stellt man sich gemeinhin etwas anderes vor. Darüber kann man sich aufregen, das sehe ich ein. Besonders, wenn man "unter" demjenigen arbeiten muss und dessen Unfähigkeit, klare Aus- und Ansagen zu machen, einen immer wieder in Schwierigkeiten in Form von Mehrarbeit und redundanten Tätigkeiten bringt. Also habe ich durchaus großes Verständnis dafür, dass sich insbesondere ein bestimmter Kollege (ich nenne ihn mal den Misanthropen) immer wieder über diese Vogel-Strauss-Taktik aufregt und das auch dem Zitronenfalter gegenüber zum Ausdruck bringt.

Vor ein paar Tagen platzte mir aber dennoch der Kragen (und jetzt komme ich zum Kern):
Der Misanthrop regte sich mal wieder über seinen besagten Abteilungsleiter auf. Nachdem dieser ein Problem geschildert und ausgiebig darüber gejammert hatte, meinte der Misanthrop: "Mein Gott, du bist echt wie 'ne Frau!" Das Weichei seinerseits rechtfertigte sich dann händeringend dafür, warum er ausgerechnet in dieser Sache nicht konsequenter und direkter zu Werke ginge. Nach Beendigung des Rechtfertigungs-Schwalls wiederholte der Misanthrop beharrlich: "Ja, aber du bist echt wie 'ne Frau! Wirklich, du bist echt total wie 'ne Frau!"

Angesichts der Tatsache, dass ich die einzige Frau in diesem Büro bin, bin ich zugegebenermaßen hellhörig auf diesem Ohr (und aus noch ein paar anderen Gründen, die zu erläutern jetzt wahrscheinlich ein wenig zu weit führen würde). Wie immer, wenn der Misanthrop mit Aussagen über "typisch weibliche" Eigenschaften aufwartet, brachte mich das auch dieses Mal dazu, mich zu fragen, was wohl gemeint sei. Bezogen auf das Zitronenfalter-Weichei konnte das nur bedeuten: "Du bist in deiner konfliktvermeidenden, lahmen, irrationalen und wenig durchsetzungsfähigen Art den Frauen gleich!" Es ist mir bewusst, dass ich die Freiheit habe, mir diesen Schuh anzuziehen oder es bleiben zu lassen. Ich zog ihn mir an, denn ich hatte die Schnauze so gestrichen voll davon, dass in diesem Büro das Wort "Frau" und die Eigenschaft "weiblich" als verdecktes, wenn auch nicht sehr subtiles Schimpfwort verwendet wird. Möglicherweise hätte mich das nicht ganz so sehr getroffen, wüsste ich nicht, dass der Misanthrop genau diese Eigenschaften des Weicheis über alle Maßen verabscheut und eben dieser Verachtung mit einem großen Maß an Gehässigkeit durch den Satz "Du bist echt wie 'ne Frau!" Ausdruck verlieh.

Einem Mann zu sagen, er sei wie eine Frau, impliziert ein Wertigkeitsgefälle. Würde man das im Straßenversuch testen und unvermittelt auf Männer zugehen und ihnen sagen, sie benähmen/verhielten sich oder wirkten wie eine Frau, dann würden sich viele dadurch vermutlich angegriffen fühlen, insbesondere die jüngeren. Dieses Wertgefälle ist für mich deutlich spürbar, und auch dem abmildernden Kommentar einer Kollegin, sie fände das erfrischend und spaßig, kann ich leider nicht viel abgewinnen. Mir wurde gesagt, da sei ich viel zu empfindlich. Ich denke, ich bin vielleicht noch längst nicht empfindlich genug.

Angesichts dieses gehaltvollen Dialogs spürte ich, wie mir die Wut den Nacken hochkroch. Mir wurde kalt, ich spürte die Gänsehaut auf den Armen und meinen schneller werdenden Puls. Nun lehrte mich die Erfahrung, dass es mir massive Magen- und Seelenschmerzen verursacht, diese aufziehenden Gefühle zu ignorieren. Also bin ich geplatzt.

Ich: "(...), bitte! Lass es einfach!"

Er: "Was?!?!"

Ich: "Diese Frauen-Scheiße. Mich kotzt das einfach ohne Ende an. Wenn Du (...) scheiße findest, dann sag' ihm, Du findest ihn scheiße, aber komm' nicht mit diesem Frauen-Mist!"

Er: "Du kannst mir nicht den Mund verbieten und mir vorschreiben, was ich sage und was nicht!"

Ich: "Da hast Du natürlich vollkommen Recht, das kann ich nicht. Nimm es trotzdem zur Kenntnis, dass mich das nervt!"


Kurze Schweigepause.

Ich: "Ich habe natürlich meine Gründe, warum ich das zum Kotzen finde, aber ich nehme mal an, sie interessieren Dich nicht!"

Er: "Stimmt genau. Die interessieren mich wirklich nicht!"


(Klar, dass er meine Steilvorlage aufgreift. Der Misanthrop kommt schließlich nicht umsonst zu diesem Namen, er ist ein intelligenter Mensch, der aber gern demonstriert, wie egal ihm alle anderen auf dieser Welt angeblich sind...)

Seitdem ist Stille.

Okay.
Ich habe mich provozieren lassen.
Ich habe nicht den Weg der konstruktiven Aussprache gesucht.
Ich habe mit ihm in einem Ton gesprochen, den Eltern benutzen, wenn sie mit ihren Kindern schimpfen.
Es war klar, dass er darauf auch antworten würde wie ein trotziges Kind.
Ich bin jetzt die Zicke. Auch das war klar.

Aber mal ehrlich: Es geht mir damit bedeutend besser als die x Male, die ich es heruntergeschluckt und mich innerlich beschwichtigt habe mit den Worten "Du überreagierst!" und "Wahrscheinlich meint er es nur spaßig!" Ob ich es als Affront auffasse, wenn er solche Sachen sagt, liegt in meiner Hand und meiner Verantwortung. Es stimmt, ich muss selbst für mich entscheiden, wer mich beleidigt und wer nicht. Aber selbst, wenn mir das Ärger und einen Adrenalinschub verpasst, ist es doch wichtig, anzuerkennen: So sind meine Gefühle und Bedürfnisse jetzt. Ich fühle mich jetzt in diesem Moment davon angegriffen und beleidigt, und ich gebe diesem Gefühl Ausdruck. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Das anzuerkennen gibt mir die Stärke, meine Meinung zu vertreten und entschieden zu bleiben. Ich habe meine Grenzen, und ich zeige sie. Natürlich liegen die Grenzen anderer Menschen anderswo.

Richtig, ich wünsche mir manchmal mehr Gelassenheit und Entspanntheit in diesen Dingen - insbesondere in Geschlechterfragen. Andererseits sind die Fronten jetzt geklärt. Das macht mich auch irgendwie zufrieden.

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Dienstag, 23. November 2010
Richtig Heimweh
Vielleicht ist das ein Winterphänomen, aber ich habe mal wieder so fürchterliches Heimweh. Es regnet den ganzen Tag, es ist trüb und kalt und dämmert schon viel zu früh. Es gibt Orte, an denen das einfach viel besser zu ertragen ist als hier.

Da kommt der Wind dazu und das Rauschen des Meeres und die tröstlichen Lichter im Hafen. Schon der Gedanke daran erzeugt Wärme in meinem Inneren. Ich stelle mir vor, wie wir zurückkommen von einem langen Strandspaziergang, bei dem uns auch das Halbdunkel und der Nieselregen nichts ausmachen und das Licht des Leuchtturms die Wassertropfen auf den Brillengläsern in kleine Sternchen verwandelt. Der Wind macht Knoten in mein Haar und seine Wangen rosig. Drinnen dann eine Kanne Tee und Stroopwaffeln und mindestens eine Runde Kartenspiel...


Ich kann das auch zuhause. Also - mich hinsetzen und mit dem Herrn Gemahl ein Spielchen spielen und Tee dazu trinken, und es ist schön. Trotzdem ist es was anderes auf Terschelling. Ich liebe diesen Sandhaufen einfach abgöttisch. Ich erinnere mich mit süßer Wehmut daran, wie wir uns lachend schräg in den Sturm stellten und in den dicken Jacken dabei aussahen wie Flughörnchen. An Sand, der sich in den Falten der Jeans festsetzte. An den Snert und nachher heißen Kakao im "Zeezicht", dabei auf die Mole schauend und wissend: Wir haben noch ein paar Tage, bevor wir wieder wegmüssen! Wie schön es war, wenn nach dem Ende der Weihnachtsferien die meisten Leute mit dem Schiff abgereist waren und wir zusammen durch die leeren Straßen von West geschlendert sind. Ich kriege Gänsehaut bei dem Gedanken daran.


Die Insel ist ein Platz, der einfach keine Anforderungen an mich stellt. Ich muss nirgendwo pünktlich sein. Ich muss nicht an morgen denken. Ich muss überhaupt gar nichts. Sie liegt einfach da, und wenn ich möchte, kann ich hingehen, wo ich will. Der Blick ist so unbeschränkt und offen, nirgendwo Häuserfronten, kein Gelärme, kein Straßenrauschen. Ich bin offener für Eindrücke, für Formen und Gerüche, Geräusche und Bewegung. Während ich anderswo permanent um mein Zentrum kreise und mal mehr, mal weniger bei mir bin, bin ich auf meiner Insel einfach da. Ich komme zur Ruhe, fange mich selbst ein, bin gegenwärtig und bei mir. Der Ort kommt mir entgegen, er fordert nichts, drängelt nicht, zwingt mich zu keiner Reaktion. Ich kann mich an eine Düne lehnen und auf den Horizont schauen und klein sein dabei, ohne dass mir etwas geschieht.


Manchmal hilft gegen innere und äußere Tristesse, wehmütige Blogeinträge über den Lieblingsplatz zu schreiben. Hiermit geschehen.

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