Sturmflut
Dienstag, 23. August 2011
Rosa, alles rosa!!
Meine zweitälteste Nichte wurde am Samstag eingeschult. Ein paar Mal nicht hingeschaut, und schon ist auch sie so weit - auch wenn mir das Mädchen viel zu klein für die riesige Schultasche scheint.

Das war Anlass für die beiden Großmütter, die Kleine mit allerhand Geschenken zu überhäufen. Und weil natürlich keine Eifersüchteleien aufkommen sollen, wurden gleich Geschwister und Cousins wie Cousinen ebenfalls beschenkt. "Das ist, als wenn Weihnachten ist!", brachte es das frischgebackene Schulkind trefflich auf den Nenner.

Wann immer ein Kinder-Beschenktag stattfindet, komme ich in den Genuss, mir die neuesten Spielzeugtrends anschauen zu können. Der Kleinste und sein Cousin kamen mit kleinen Baggern und Traktoren gut und vergleichsweise konservativ davon. Die Schulanfängerin wurde mit Ruckack und Gummistiefeln in rosa beglückt, mit einem abschließbaren Tagebuch in rosa und mit der Hello-Kitty-Wundertüte, die reichlich gefüllt war mit rosa Glitzerstickern und anderem Tand. Krönung für die Schwestern waren allerdings die "Filly Unicorns", kleine Einhörner-Figuren aus PVC, natürlich mit Glitzersteinchen-Diadem.

Kannte ich noch nicht. Die Figuren werden beim Hersteller unter der Rubrik "Sammelthemen" geführt, und wenn die Kids sammeln, dann ist natürlich ein gutes Geschäft immer schon einmal gesichert. Keine ungeschickte Strategie. Auch wir haben als Kinder schon gesammelt. Ich wurde neugierig und wollte wissen, was denn die herzigen "Fillies" nun genau sind, und es verschlug mich auf die genannte Website.

Ich bin wirklich keine radikale Verfechterin des Gender-Mainstreamings, aber bei so viel Harmonie im Mädchenspielzeug wurde mir dann doch schlecht. Mal ganz davon abgesehen, dass es wirklich nicht nötig ist, die Kinder bis zum Gehtnichtmehr mit allem möglichen Kram zu beschenken, war das dann doch auch inhaltlich absolut schmerzgrenzwertig. Denn die "Fillies", so lehrte mich mein Ausflug in deren wunderbare Glitzerwelt, leben auf tollen Kristallinseln, die alle ein unterschiedliches Thema haben: Alles dreht sich um Liebe, Romantik, Schönheit, Träume, Partys und Freundschaft.

Eine perfekte Vorbereitung auf das spätere Mädchenleben. Schon hier gibt es eine "Filly"-Beauty-Queen zu erwerben, und einige der Viecher sind allein für die neuesten Trends "zuständig". Hurra! Meine Nichte ist erst sechs. Ich hoffe sehr, dass das Plastiktier möglichst schnell in irgendeiner staubigen Kinderzimmerecke verschwindet.

Es ist zweifelsohne der Initiative des Spielzeugfabrikanten geschuldet, dass alles so zuckrig ausfällt. Klar, Kinder schleppen Trends wie Seuchen aus dem Kindergarten und der Schule nach hause, aber so einen Kappes kann sich kein Kind ausdenken und geschlechtsspezifischerweise wollen. Zum einen ist es die reine Geldschneiderei, die mich an sowas aufregt. Aber Brechreiz erzeugt mir vor allem die Glitzer-Harmonie-Freundschafts-Zucker-Welt, die den kleinen Mädchen da als Rollenmuster angeboten wird.

Es ist mir bewusst, dass ein grottenhässliches Plastiktier aus einem kleinen Mädchen noch keine zukünftig unselbständige, dämliche Tussi macht. Aber in allem enthalten ist die Prämisse "Mädchen sind so!". Sie sind nicht so, genau wie die Jungs keine stacheligen Power-Rangers sind, die sich fortlaufend beweisen und prügeln müssen.

Jungen und Mädchen unterscheiden sich, und das ist auch okay. Ich frage mich nur, wie anders das Bild wohl aussähe, wenn der ganze Klimbim drumherum, den die Spielzeughersteller (und später die Bekleidungs- und Kosmetikkonzerne) so gekonnt in Szene setzen, wegfiele. Inklusive der unbewussten Rollenschemata, die Eltern ihren Kindern vorleben. Sanktioniert wird, was nicht in die eigene Vorstellung passt: Das aggressive Mädchen, der anlehnungsbedürftige Junge. Das aktive, neugierige Mädchen, der passive, stille Junge. Und zwar von Beginn an.

Wie sehr solche Umstände menschengemacht sind, kann man ganz gut erkennen, wenn man Kinderfotos von einst und heute nebeneinanderhält. Vor 30 Jahren, als ich klein war, trugen wir Latzhosen in rot und blau, Pullis in orange und grün, in den kräftigen Farben der Siebziger.



Alles sehr kindlich-lebendig, und man hat mich schon auch mal in khaki Cord gesehen. Heute sind die Mädchen in rosa und rot, die Jungs in blau, braun und schwarz unterwegs. Auf einen Blick kann man erkennen, welche Rucksack-, Brotdosen- oder Trinkflaschengarnitur für Lilly und welche für Leon ist. Die Zeiten, in denen ein Geschwisterpaar unterschiedlichen Geschlechts mit demselben Tornistermodell in die Schule ging, sind definitiv vorbei.

Ich bin gespannt-besorgt, wohin das Rosatum wohl führen wird. Zumal diese Form der Kategorisierung durch konservative bis radikal-rückschrittliche Tendenzen in Erziehung, Familienleben und Rollenverteilung untermauert wird. Wenn's anderweitig eng wird, braucht man halt Schubladen, in denen man sich festkrallen kann. Ich hoffe, dass die Nichten und Neffen dem nicht längerfristig zum Opfer fallen.

Ergänzung:
Ein spannender Überblick über die Geschichte der geschlechtsgebundenen Blau-Rosa-Farbgebung findet sich hier. Ein angenehmer Gegenpol zu den lustigen biologistischen Offenbarungen mancher Forscher, Mädchen liebten Rosa, weil das nun einmal die Farbe der Beeren (die die Steinzeitfrauen sammelten) oder der Haut der Babys (die die Steinzeitfrauen hüteten) sei und Blau eben die Farbe des Himmels (unter dem sich die Steinzeitmänner meistens aufhielten)...

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Misstrauensreflex
Gestern abend klingelte mein Telefon. Im Display eine Nummer, die mir vage bekannt vorkam, die ich aber nicht ohne weiteres zuordnen konnte. Am anderen Ende der Leitung war G., eine Freundin meiner Eltern, die ich selbst auch schon lange kenne und mit der ich mich sehr gut verstehe. Vor längerer Zeit kam sie regelmäßig zu mir, um sich gemeinsam mit meiner Mutter ein wenig Englisch von mir beibringen zu lassen.

Sie fragte mich, ob ich nicht einmal Lust auf ein Treffen hätte, irgendwo Kaffee trinken, ein bisschen quatschen. Ich sagte freudig zu. Sie ist eine fröhliche, offene und lebensbejahende Person, mit der sich sehr angenehm die Zeit verbringen lässt. Wir vereinbarten einen Termin, und ich freue mich auch sehr darauf.

Als ich dann aber aufgelegt hatte, schlichen sich plötzlich Fragen in meinen Kopf. Warum hat sie genau jetzt angerufen, nach so langer Zeit? Könnten meine Eltern sie gebeten haben, sich mit mir zu treffen, um endlich mal wieder Informationen aus erster Hand über mich zu erhalten? Meint sie es wirklich ehrlich mit mir? Wie Gift mischen sich diese Gedanken in meine heitere Erwartung und die Freude darüber, dass sich G. an mich erinnert hat und sich mit mir treffen will. Schwarze Tinte, die sich in einem Glas mit klarem, kühlem Wasser ausbreitet.

Natürlich werde ich sie treffen, und ich möchte das auch genießen. Ich werde mich über diese albernen Verschwörungsgedanken hinwegsetzen und das Beste annehmen. Was mich sehr erschüttert ist, wie tief und nachhaltig mein Misstrauen ist. Die Tatsache, dass ich meinen Eltern nicht so weit traue, wie ich sie werfen kann, färbt auch auf die Menschen in ihrem Umfeld ab. Aber was bedeutet das für mich? Mit welcher Berechtigung habe ich so ein mieses Bild von G.? Schade ich nicht in erster Linie mir selbst, indem ich immer und immer wieder die Motive der Menschen hinterfrage, mit denen ich zusammentreffe? Indem ich nicht mit Solidarität und aufrichtiger Freundlichkeit rechne, sondern mit Fallstricken, Hintertüren und Falschheiten?

Ich möchte gern die Erfahrung machen, dass Menschen anders sind, und ich mache sie auch. Kann es immerhin inzwischen.

G. ist eigentlich kein Mensch, der sich von anderen instrumentalisieren lässt. Vielleicht wird sie mich fragen, wie es mir im Bezug auf meine Eltern geht. Aber ich glaube, ich werde es schon spüren können, ob sie das aus echtem Interesse tut oder weil sie dazu instruiert wurde. Möglich auch, dass ich die Macht meiner Eltern nach wie vor maßlos überschätze und ihre Maßstäbe für allgemeingültiger halte, als sie tatsächlich sind.

Selten war ich versessener darauf, mich von der Wirklichkeit eines Besseren belehren zu lassen.

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