Sturmflut
Montag, 14. November 2011
Schnauze voll
Ich könnte Urlaub brauchen. Mindestens zwei Wochen am Stück. Ein Dutzend solcher Tage, an denen ich nichts, aber auch bitte gar nichts tun muss, wenn ich nicht will. Keine Termine, keine Verabredungen, keine Arbeit, keine Besorgungen, keine Amtsgänge, keine Entscheidungen.

Nicht, dass irgendwas in den letzten Wochen anders gelaufen wäre als sonst.

Arbeit - ganz okay. Bloß nervt mich das frühe Aufstehen. Eine Stunde länger schlafen wäre nicht schlecht, dann wäre ich taufrisch wie der junge Morgen. Mich nervt das anatomisch unkorrekte Bildschirmhocken. Mich nerven Tage, die nur aus Arbeit bestehen und aus den paar Stunden abends, an denen ich nur die Beine von mir strecken möchte. Mich nervt es, im Dunkeln morgens loszufahren und im Dunkeln nach hause zu kommen. Mich nervt das halb ernst gemeinte Rumgezicke zweier Kollegen untereinander, die sich anstellen wie die schlimmsten Waschweiber. Mich nervt das belanglose Gejaule aus dem Radio. Alles eigentlich bloß Kleinigkeiten, aber trotzdem.

Aktivitäten, die mir eigentlich Ausgleich verschaffen sollten, gehen mir zur Zeit auch eher auf den Keks. Tai Chi ist toll. Ich würde am liebsten Einzelstunden bei unserer Kursleiterin nehmen, einer zierlichen, muskulösen Person mit dem Haarschnitt einer buddhistischen Nonne. Sie ist toll. Sympathisch, offen, sie geht in dem auf, was sie macht. Was mich ankotzt sind die alternden Hausfrauen im Kurs, die aus der Angelegenheit eine Leistungsschau machen, mit sauertöpfischer Miene und kiebiger Stimme die anderen Kursteilnehmer ungefragt korrigieren und am Kursende jedes Mal Weisheiten von sich geben wie "Üben, üben, üben - das ist das A & O!"

Die Besuche bei I. sind jedesmal sehr erholsam, und die stundenlagen Zugfahrten machen mir eigentlich nichts aus. Aber wenn der Tag eh schon stressig ist, wenn sich die Züge verspäten und vollgestopft sind mit Schülern, alkoholisierten Kegelschwestern und Punks, dann wird meine grundsätzlich vorhandene Reisefreude deutlich weniger. Wenn ich vor lauter Unterwegssein nicht dazu komme, etwas zu essen, und das Bedürfnis auch erst dann verspüre, wenn mir die Knie weich werden. I. ist nun zum Glück eine Person, die weiß, dass Energie begrenzt sein kann und mir und sich selbst zumindest für diese Woche - quasi gedankenleserisch vorwegnehmend - eine Auszeit verordnete.

Dann ist da der ganze Rummel. Die Entscheidung in Sachen Uni, über die ich nachts grübele und die immer wieder einen schwarzen Schatten über alles zieht, was eigentlich schön sein könnte. Die Tatsache, dass die Krankenkasse meint, ich habe zu viel verdient, und mir jetzt horrende Nachzahlungen aufs Auge drückt, gegen die ich noch Einspruch einlegen muss. Dem ganzen Papierkram, der damit verbunden ist. Der Geburtstag meines Neffen, den ich verpennt habe und anlässlich dessen ich noch ein Päckchen mit dem von meiner Schwester vorgeschlagenen völlig überteuerten Wunsch-Spielzeug schicken muss.

Im Hintergrund lauern die Dinge, die ich gern erledigen möchte, für die ich aber keine Energie habe. Mit der neuen (ausgesprochen netten) Kollegin ins Café und vielleicht konsequenterweise auch zum Sport gehen. Einen ausgiebigen Allergietest bei der Ärztin anfordern und dann mit einer Hyposensibilisierung beginnen, bevor der Februar kommt und die verdammten Pollen wieder fliegen. Außerdem um Physiotherapie bitten, bevor mein Rücken tatsächlich zu einem ernsthaften Problem statt nur zum kleinen Ärgernis wird. Freundin S. endlich mal anrufen, um ein ausgiebiges Gespräch mit ihr zu führen - was ich schon viel zu lang nicht mehr getan habe. Die Schwiegereltern einladen, einen Kuchen backen.

Aber mir reicht es echt. Ich möchte mich verkriechen. Nicht so, wie wenn die Depression zuschlägt. Sondern um die Ressourcen zu schonen, um mich aufzuladen, zu entstressen, auszuruhen. Nicht nur ein bisschen, sondern mal wirklich richtig. Nicht nur für's Wochenende. Ich möchte mich ausklammern, mich aus dem Betrieb herausnehmen, um mich mal gründlich zu warten. Keine Anrufe, keine offenen Tasks.

Und um die Dinge zu tun, die mir wirklich Spaß machen. Stundenlang mit Photoshop herumbasteln, ohne hinterher mit Erschrecken feststellen zu müssen, wie die Stunden davongerauscht sind. Meine Einmachgläser dekorieren. Schreiben. Auf dem Sofa herumgammeln und Episode auf Episode schrulliger Fernsehserien von DVD angucken, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, morgens wieder früh rauszumüssen. An meinem Sofa-Plaid weiterhäkeln. Rezepte abschreiben und ausprobieren. Mal wieder in die Sauna gehen. Und so weiter, und so weiter.

"I feel thin, sort of stretched, like butter, scraped over too much bread." sagt Bilbo Baggins in "Herr der Ringe". Ich habe das Gefühl, wegzuwehen wie Sand am Strand, Krümel für Krümel. Ich bin unendlich müde. Ich habe das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben für das, was ich bin, und zu viel mit dem zu verbringen, was ich muss. Ich fühle mich zusammengedrückt, verschnürt wie ein Paket.

Bäh!

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