Sturmflut
Montag, 12. Dezember 2011
Entwicklungen
S. ist schon wieder zusammengebrochen. Sie ist für anderthalb Wochen krankgeschrieben. Ohne dass jemand genau wüsste, weshalb. Das, was sie Burn-Out nennt, hat wieder zugeschlagen.

Ich kann mir denken, wieso. Es geschieht sicher nicht einfach zufällig so kurz vor Weihnachten. S. neigt dazu, über ihre Grenzen zu gehen, und sie lebt davon, das zu tun. Klingt bestimmt paradox, aber ihr geht Sicherheit verloren, wenn sie nicht für andere da ist. Sie spürt sich nur über andere. Vor dem Alleinsein mit sich selbst läuft sie davon. Sie sagt niemals Nein.

Ich nehme an, S.s Liste wurde jetzt zunehmend länger. Die kleinen und großen Gefälligkeiten, die sie für Familie und Freunde erledigt, werden sich gehäuft haben. Nur noch kurz was für den Chef erledigen. Durch die halbe Republik reisen, um hier und da noch einen Vortrag zu halten. Initiativbewerbungen und Vorstellungstermine. Dem Lebensgefährten beim Leben helfen. Ein neues Auto kaufen. Weihnachtsbesuche organisieren. Geschenke kaufen. Den Liebeskummer der Schwester besänftigen. Die Eltern besuchen. Fast jedes Wochenende. An den anderen die Schwiegereltern. Zwischendurch hat sie mich postalisch an meinen Hochzeitstag erinnert und sich für Geburtstagswünsche bedankt. Konflikte und den Zusammenbruch vermieden. Und gleichzeitig verzweifelt den Sinn ihres Lebens gesucht und das eigene Wollen.

S. hat sich entwickelt. Sie ist ganz sicher nicht mehr die Person, die sie war, als wir noch zusammen studierten - oder bin ich anders? Vielleicht beides. Ich überlege ziemlich angestrengt, was mich an dieser Entwicklung so sehr verunsichert.

Ich möchte sie anrufen, und ich möchte es doch wieder nicht. Denn dieses Gefühl, sie nicht zu erreichen, gefällt mir nicht. Ich weiß nicht, was es genau ist. Auf jeden Fall ist es Ärger und Kränkung und ein Gefühl von Zurückweisung, was ich dabei empfinde. Ich habe großes Mitgefühl, ich möchte S. gern etwas Kluges sagen, etwas, das ihr hilft. Ich spüre ihren Schmerz unmittelbar, ich kann nachfühlen, wie unglaublich müde und erschöpft sie sein muss. Ich würde sie gern in den Arm nehmen (aber zwischen uns liegen nicht nur Kilometer). Ich würde gern für sie da sein - nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie meine Freundin ist und ich sie lieb habe.

Aber sie lässt mich nicht an sich heran. Ich mache mir Gedanken, was ich ihr sagen kann. Ich mache mir Sorgen und versuche, das auch auszudrücken. Ich setze mich hin und wähle meine Worte sorgfältig, klebe den Umschlag zu und schicke ihn ins Nichts. Ich versuche, ihr nicht zu sagen, was sie fühlen sollte, sondern Trost und Halt zu vermitteln.

Was ich spüre: Ich bin damit nicht willkommen. Sie spricht nicht - nicht über das, was sie bewegt, nicht über ihren Zustand, nicht darüber, was ich ihr zu sagen hatte. Sie ist immer die Fröhliche, sekundenlang auch verpflichtet dankbar, oder manchmal auch müde, aber sie "kommt irgendwie zurecht". Würde sie mein Mitgefühl an- und meine Sorge wahrnehmen, dann bedeutete das, dass sie zugeben müsste, es überhaupt nötig zu haben. Nicht stark zu sein.

Ich bin beleidigt. Beleidigt darüber, dass ich mir so viele Gedanken um sie mache und im Gegenzug nur ein Punkt auf ihrem Terminkalender bin. Ich bin beleidigt darüber, dass ich jetzt, da ich selbst nicht mehr so bedürftig bin, als Projektionsfläche für ihr Helfersyndrom wegfalle und plötzlich spüren muss, dass es nicht das reine Interesse an meiner Person war, das ausschlaggebend dafür war, dass sie "immer für mich da" war. Ich bin beleidigt darüber, dass ich ihr zur Selbststabilisierung diente und jetzt, da ich die Kriterien dafür nicht mehr erfülle, weitestgehend uninteressant bin. Ich bin beleidigt darüber, dass ich nicht für sie da sein darf.

Und ich bin zutiefst erschrocken. Dieses Erschrecken ist jedes Mal neu, und es trifft mich unvermittelt und hat mit meiner oberflächlichen, narzisstischen Kränkung über den Ausschluss aus ihrem Leben nichts zu tun. Ich bin erschrocken darüber, dass sie so für alle offensichtlich vor die Hunde geht, das selbst aber nicht sehen kann. Das Ausmaß des Schmerzes muss riesig sein, wenn sie so davor wegrennt. Mich trifft mit einem Keulenschlag meine eigene Hilflosigkeit in dieser Hinsicht. Es gibt nichts, was ich tun kann, so lange sie es selbst nicht will.

Sie dreht am Rad. Steht ständig unter Strom. Beschwindelt sich selbst, bis ihr schwindlig wird. Die Zwangspausen schieben den Totalzusammenbruch nur hinaus. So ähnlich muss es sein, wenn ein geliebter Mensch sich mit Drogen oder Alkohol zugrunderichtet.

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