Sturmflut
Freitag, 23. Dezember 2011
"Praktisch bildbar"
Bin ich die einzige, die den Begriff furchtbar herablassend und arrogant findet? Ich habe ihn nun schon mehrfach gelesen, und er stößt mir wirklich sauer auf.

Klar, die Euphemismus-Tretmühle ist eine Sache. Menschen, die früher noch als schwachsinnig, idiotisch oder minderbemittelt galten, wurden dann irgendwann zu Gehandicapten, dann zu Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Aus der Sonder- wurde die Förderschule. Inzwischen sind "Behindi" oder "Spast" völlig "normale" Schimpfwörter. Die Debatte um Begriffe ist also obsolet, solange sich nicht die dahinter stehende Auffassung zu unseren Mitmenschen ändert. So ist es wohl auch mit dem Ausdruck "praktisch bildbar".

Aber ich finde, "praktisch bildbar" sagt noch eine Menge mehr aus. Der Begriff bricht den Menschen in seiner Existenz (und zwar uns alle) auf eine Wertigkeit, eine Ver-Wertbarkeit herunter. Er sagt aus, wie viel oder wenig mit dem gegebenen Material anzufangen ist. Demzufolge sind wir alle wie Klumpen von Ton, die geformt werden können - in unterschiedlichen Ausprägungen. Wir sind Objekte, die bearbeitet werden. Harte oder weiche Brocken. Dem Begriff "praktisch bildbar" schwingt dann zudem ein unterschwelliges "immerhin noch" mit. Ein bisschen was kann man damit anfangen, der betreffende sitzt immerhin nicht den lieben langen Tag sabbernd in der Ecke. Das könnten wir nun wirklich nicht ertragen.

Ein bisschen ist das wie mit der inzwischen modern gewordenen Haltung gegenüber Menschen mit Trisomie 21. Allgemein gehen diese Menschen nun nicht mehr als "Mongölchen" durch, sondern man empfindet sie als liebenswerte, erstaunlich lernfähige Menschen mit Teddybärcharakter - was im Übrigen aber nicht weniger herablassend ist. Die Überbetonung des Faktums, Menschen mit dieser Beeinträchtigung seien ja sooo fröhlich, unbekümmert und lebensfroh, stellt ihr "Defizit" nur noch mehr in den Vordergrund. So, als müsse man zwangsweise ein Gegengewicht zu ihrer Behinderung erzeugen, um ihren "Wert" für die Gesellschaft anerkennen zu können.

Die Grundfrage ist immer noch: Was springt dabei heraus?

Natürlich ist es für jeden Menschen erstrebenswert, ein hohes Maß an Selbständigkeit und Autonomie zu erlangen und zu lernen, was es zu lernen gibt (und auch, was er will). Aber der Begriff der Bildbarkeit gibt dem Ganzen einen anderen Anstrich. Er ist symptomatisch für unseren Drang, nach verwertbarem Output zu kategorisieren. Wir richten das Augenmerk darauf, was jemand kann, nicht wer er ist. Das zieht eine Staffelung der Wertigkeit nach sich (die sich übrigens ebenso auf alle anderen anwenden lässt, denen wir "Normalbürger" uns überlegen fühlen - Hartz-IV-Empfänger, Obdachlose, seelisch Kranke, sogar Tiere). Wer sich nicht einreiht in den Ellenbogenkampf der engagierten Produktiven, den wir für unsere Lebensrealität halten, wer also nicht(s) kann, der ist raus.

Dabei ist die Idee der Wertigkeit eines menschlichen Lebens eine artifizielle, und wenn man sie auf die Spitze treibt, dann wird (wie bereits erlebt) zwischen "wert" und "unwert" unterschieden. Zwar tötet man heute nicht mehr mit Giftspritzen und Gas, aber Verachtung und ein arroganter Blick können ebenso vernichtend wirken und die Würde jedes Menschen zerstören. Wir müssen uns daran messen lassen, wie würdevoll der Einzelne in unserer Gesellschaft lebt, und damit ist es nicht mehr allzuweit her.

Da können noch so viele Neologismen nicht trösten. Sie sind allenfalls Kosmetik, während das Gesicht darunter immer mehr zur hässlichen Fratze mutiert.

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