Sturmflut
Montag, 17. September 2012
Imaginierte Instanzen, tote Propheten
Zur Zeit packt mich das kalte Entsetzen, wenn ich den Fernseher einschalte, um die Nachrichten anzusehen. Mir kocht die Wut bis in die Kehle und zugleich greift kalte Angst nach mir.

Was ist hier denn eigentlich los? Der religiöse Eifer wird immer fanatischer. Auf der einen Seite sind es durchgeknallte, radikal-fundamentalistische Christen und auf der anderen wütende, flaggenverbrennende Muslime. Alle Seiten fühlen sich gleichermaßen verachtet, verkannt, missbraucht, beleidigt, gedemütigt.

Wenn der Christ in seinem stillen Stübchen an unbefleckte Empfängnis glauben möchte und der Muslim an die unumstößlichen Worte seines Propheten, so ist das deren Bier. Sollen sie machen, können sie machen. Auch, wenn sie sich gegenseitig die Köpfe darüber heiß redeten, wer von ihnen denn nun im Recht sei, wer sich von wem beleidigt fühlen dürfe und in wessen Buch nun die einzige Wahrheit verzeichnet stehe - bittesehr. Natürlich muss sich über blaue Augen nicht wundern, wer sich auf des Fanatikers Parkett begibt.

Was mir wirklich Angst einjagt ist, dass vor diesem Hintergrund nun leider auch aus dem Munde meines (nicht von mir gewählten!) Staatsoberhauptes verlautet, die Meinungsfreiheit habe ihre Grenzen. Während Frau Rodham Clinton vollkommen nachvollziehbar argumentiert, es läge in der Natur eines freiheitlich-demokratischen Landes, dass jeder eben auch Geschmacklosigkeiten äußern dürfe, ohne dafür vor den Kadi gezerrt zu werden, stößt mir Frau Merkels widerliches Angebieder heftigst sauer auf. Die Dame hat nicht die Grenzen meiner Meinungsfreiheit zugunsten religiöser Eiferer zu verschieben.

Es gibt Rechte, um deren Unantastbarkeit wir uns immer und immer wieder bemühen müssen, und das der Meinungsfreiheit gehört genau so dazu wie das der körperlichen und seelischen Unversehrtheit und das der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich habe schon mal an anderer Stelle geschrieben, dass meines Erachtens nach diese Rechte über dem der Religionsfreiheit stehen müssen, und zwar unverrückbar.

Jetzt werden diese Rechte schleichend aufgeweicht aus Furcht vor den Gewaltausbrüchen derer, die sich beleidigt fühlen. Es mag sein, dass ich da paranoid bin - ich habe aber zugleich den Eindruck, wir sind alle dahingehend nicht paranoid genug. Aus religiöser Toleranz - vielzitiertes Schlagwort dieser Tage, beinahe wie dereinst "Multikulti" - wird jetzt auf anderes verzichtet. Alles unter dem Schlagwort Religionsfreiheit.

Aber es ist ja auch so wichtig. Religiosität, die heilige Kuh, ist natürlich über jede Kritik erhaben. Wem seine Religion sagt, Frauen seien weniger wert als Männer, der muss das ja schließlich auch praktizieren dürfen - Freiheit der Religion! Wem seine Religion sagt, ein alter Mann im weißen Kittel und über ihm lediglich noch eine imaginierte Gottheit seien die einzigen Instanzen, vor denen er sich zu rechtfertigen habe, für den gelten eben keine irdischen Gesetze, und dessen Unrechtstaten brauchen vor keinem weltlichen Gericht gehört zu werden - Freiheit der Religion! Wer Menschen anderer Weltanschauungen in ihrem Wort beschneiden möchte, sollte das auch dürfen - Freiheit der Religion! Wer seinen seit Jahrhunderten längst begrabenen Propheten beleidigt fühlen möchte, sollte in dessen Namen auch Menschen töten dürfen. Was soll's - Freiheit der Religion!

Mir verbietet niemand im Namen einer solchen Religionsfreiheit das Wort, auch nicht "meine" Kanzlerin!! Ich käme zwar niemals auf die Idee, anderer Leute Propheten als Kinderschänder zu "verunglimpfen" oder gar darüber Filme zu drehen - ich finde das peinlich und unterbelichtet, aber dennoch: Würde ich es wollen, dann sollte ich es dürfen.

Denn als nächstes würde mir sonst verboten, mich auf jegliche (auch differenzierte!) Art mit den Religionen anderer auseinanderzusetzen. Als nächstes würde mir verboten, die Praktiken der katholischen Kirche zu kritisieren oder die Scheinheiligkeit in den Reihen der evangelischen. Als nächstes würde mir verboten zu äußern, dass ich Schleier und Kopftuch für Symbole der Unterdrückung halte. Als nächstes würde mir verboten, deutlich zu machen, dass ich das Kastenwesen der Hindus für menschenverachtend halte. Denn es könnte ja jemand das als eine Beleidigung empfinden.

Überhaupt: Beleidigung! In unserem Land muss sich niemand wüst beleidigen lassen - er kann sich deshalb an ein Gericht wenden und klagen. Für den Straftatbestand einer Beleidigung gibt es Eckpunkte, die hinreichend erfüllt sein müssen. Sie beziehen sich auf eine lebende und fühlende Person, deren soziale Kontakte, deren Ruf geschädigt werden können.

Aber Eure Propheten sind tot und begraben. Eure Schriften sind bloß Buchstaben auf Papier. Eure göttlichen Instanzen sind, da Ihr selbst sie nicht als imaginär betrachtet, in Euren Augen unantastbar. Was dort verletzt wird, sind doch gar nicht Eure Götter. Was Ihr verletzt seht, sind Euer Wertgefüge, Eure Lebenswelt, Euer Anspruch auf Wahrheit und Weisheit, Kontrolle und Macht.

Es muss erlaubt sein, diese nicht zu teilen, nicht übereinzustimmen, nicht Eurer Meinung zu sein. Scheich Hassan Nasrallah hat gefordert, der Prophet Mohammed und der Koran müssten auf der ganzen Welt respektiert werden. Falsch! Niemand muss Eure Götter respektieren, niemand muss Eure toten Propheten, niemand muss Eure Schriften respektieren.

Ihr könnt das unveräußerliche Menschenrecht verlangen, dass man Euch als Person respektiert. Dass Euch niemand einfach so ein Loch in den Kopf schießt, Euch niemand verbietet, hinzugehen, wo ihr wollt, dass niemand Euer Haus anzündet oder Euch ein blaues Auge schlägt, und dass niemand Euch vorschreibt, was Ihr zu sagen, zu singen, zu malen oder zu filmen habt, wie Ihr Euch kleiden und was Ihr essen sollt.

Wie groß muss Eure Verunsicherung sein, wenn Ihr so laut aufheult wegen eines Stückchens Zelluloid. Wie zart Eure Seelen, wenn ein schlecht gemachter Film ausreicht, um Euch aus der Bahn zu werfen. Wie gering mag wohl Euer eigener Glaube sein, wenn Ihr es nötig habt, die Schriften anderer zu verbrennen oder auf sie zu pinkeln, um Euch sicher zu fühlen. Wie klein ist selber, wer für andere nur Spott und Häme übrig hat und sich bewusst wunde Punkte sucht. Wie erwachsen seid Ihr denn eigentlich?

Niemandes Glauben darf über das Ausmaß der Freiheit der Menschen entscheiden und darüber, wie sie sich ausdrücken, worüber sie lachen und weinen, was sie zum Thema machen, was sie diskutieren. Schon gar nicht darüber, wer leben darf und wer sterben muss. Religionsfreiheit sollte die Freiheit des anderen von Eurer Religion sein.

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