Sturmflut
Donnerstag, 27. September 2012
Das Ei des Anstoßes
Verehrter Herr Martenstein.

Jüngst veröffentlichten Sie in Ihrer Kolumne "Harald Martenstein" im Zeit-Magazin eine kleine Abhandlung über das neue Überraschungsei für Mädchen, das die Firma Fererro sich ausgedacht hat. Sehr zutreffend stellten Sie fest, dass die Aufregung um das pinke Glitzer-Ei sicher mit einkalkuliert gewesen sei und dass das in der Presse sicher viel mehr Aufmerksamkeit erregt hat, als dies der Fall gewesen wäre, hätte man sich schön brav halbwegs geschlechtsneutral verhalten wie bisher. Bad news are so much better than no news. Schon klar.

Aber Sie merkten an, dies sei ja nun wirklich auch alles nicht so wild. Schließlich wisse man ja, dass Kinder sich in einer bestimmten Phase ihres Lebens einfach ganz genau dem Geschlechter-Klischee entsprechend verhielten, und zu Schaden sei deshalb noch keine zarte Kinderpsyche gekommen. Sie schreiben: "Mädchen und Jungen möchten einfach ihre Identität finden. Wenn man der Natur ihren Lauf lässt, kommen am Ende verschiedene Geschlechter heraus, die sich, trotz vieler Gemeinsamkeiten, in ein paar Punkten unterschiedlich verhalten.

Damit mögen Sie sogar Recht haben, aber hat das rosa Ei tatsächlich irgend etwas mit der Natur zu tun, der man ihren Lauf lassen muss? Sie wittern in den Reihen der Kritiker die ach so bösen "Genderisten", die Gleichmacher, die Jungens das Spielen mit Puppen per Dekret verordnen möchten. Sie wittern die Entstehung von "Mauen" und "Frännern", wie sie das so fürchterlich wortoriginell in ihrem Artikel kundtun - nein sowas! Sie sehen die Menschen von morgen als schleimige, geschlechtslose Schnecken. Bis zum letzten Atemzug wollen Sie dagegen kämpfen, dass es so weit kommt.

Oha, und das alles als Ergebnis von Erziehung - von der sie aber zwei Absätze später behaupten, sie sei gar nicht dazu in der Lage, Menschen in andere Menschen zu verwandeln. Warum also all die Furcht? Der "Genderismus" kann demnach ja gar niemanden zur Schnecke machen.

Ihre "private Enthüllung" (Obacht!), dass Ihre Oma Ihnen Puppen zum Spielen gab, macht Ihre Argumentation auch nicht profunder. Denn schließlich ist die Ideologie, aus der heraus ihre Frau Großmutter dies tat, absolut zweitrangig. Fest steht, dass Sie trotz allem ein ganzer Mann wurden. Oder etwa nicht? Ein "Frann" oder gar eine Schnecke ist aus Ihnen, so man das aus der Distanz beurteilen kann, jedenfalls nicht geworden. Dass sie das allerdings für eine Enthüllung von Gewicht halten und dies auch betonen, zeigt wohl, dass Ihnen angesichts des Puppenspiels noch eine gewisse Restscham und Peinlichkeit geblieben ist. Schließlich machen echte Jungs sowas ja nicht. Oder?

Nun, zurück in die wunderbare rosafarbene Mädchenwelt. Bisweilen wundere ich mich darüber, dass mir überhaupt Brüste gewachsen sind, trug ich doch als Mädchen niemals Rosa, sondern die meiste Zeit braune oder blaue Latz- oder Kordhosen, buntes Selbstgenähtes und später Jeans. Ist Rosa nun tatsächlich etwas, das von selbst auf den Plan tritt, wenn wir der Natur ihren Lauf lassen, wie Sie das fordern? Wohl kaum.

Meine Identität als Frau hat auch nicht darunter gelitten, dass im Spiel mit meinem besten Kindergartenfreund ich grundsätzlich immer der wilde Pirat war und er das kleine Mädchen, das ich aus der Seenot rettete. Mein bester Kindergartenfreund wurde davon auch nicht schwul, jämmerlich, weibisch oder fing sich irgendwelche anderen vermeintlichen, an seiner männlichen Identität sägenden Makel. Er kriegte nicht mal einen Komplex. Wir waren wohl ganz ungewollt der Traum jedes "Genderisten", ganz freiwillig und ohne Druck. Das mag daran gelegen haben, dass wir in jenem glückseligen Zeitreservat der Siebziger und Achtziger aufwuchsen, als man nicht mehr sagte "Ein Mädchen/Junge macht das nicht!", aber noch nicht "So ist ein Mädchen, so ist ein Junge!" Wir waren einfach Kinder, und wir fanden unsere Identität, ohne dafür phasenweise Klischees leben zu müssen.

Ein Klischee ist nun aber wirklich nichts Natürliches, Herr Martenstein. Nicht, dass wer genauer hinsähe, auch diesen Farb-Alptraum für natürlich halten könnte. Wirklich nicht. Rosa ist der Geschlechterknast, in den die Mädchen gesperrt werden und die zarte Ausdrucksmöglichkeit, die den Jungen vehement verwehrt wird. Die heute allgegenwärtige Kennzeichnung der Spielzeuge und Kleider als "für Mädchen" und "für Jungen" war zwischenzeitlich mal beinahe verschwunden und wird nun bis zum totalen Überdruss reanimiert. Vielleicht, weil wir das Vage nicht mehr ertragen können, weil wir in all den Unsicherheiten das soziale Geschlecht als Rankhilfe benötigen, um für uns selbst klarzukriegen, wer wir sein sollen. Für Wollen ist bei dem ganzen Heckmeck allerdings kaum Platz.

Erheblich gelassener als Sie sah es vor mehr als 110 Jahren die Ärztin Anna Fischer-Dückelmann, der die folgende Erkenntnis aus der Feder floss:

"Die größeren Kinder, die mit mehr Verständnis spielen, lasse man recht oft im Freien sich ergötzen; an einem Bach, im Wald, auf einer Wiese, wo sie recht viel für ihren forschenden Geist, für ihre Tatkraft, ihre kindliche Phantasie finden, und an ein paar Käfern, an einem Maulwurfshügel, an dem schäumenden Wasser des Baches an einem Steinhaufen oder altem Holz unendlich viel Interessantes entdecken. Man sehe nur zu, wie glückselig oder tiefversunken sie dort spielen! Das ist gesund für Leib und Seele! Dort, in der freien Natur wächst ihr Können und ihre Erkenntnis, dort sind sie glücklich. Weit mehr als es geschieht, sollte auch kleinen Mädchen zu solchem Spiel Gelegenheit gegeben werden, statt ihren suchenden Geist im vorzeitigen Puppenspiel zu ersticken, das, wie es heute betrieben wird, vielmehr die Putzsucht und albernste Eitelkeit entwickelt, statt schlummernde mütterliche Gefühle zu wecken. Entschieden und kräftig spiele das Mädchen mit den Knaben, forsche, versuche, arbeite, streite und kämpfe mit ihnen; zur Pflege der Mütterlichkeit ist es noch Zeit. Zuerst muss doch auch das Mädchen ein voller, ganzer Mensch werden, bevor es an seine weiblichen Aufgaben denken soll. Dann werden uns andere Jungfrauen erblühen und kräftigere Mütter aus ihnen entstehen."

Haben Sie keine Angst vor Schnecken, Herr Martenstein. Wir Menschen werden immer Männer und Frauen bleiben. Ganz ohne dass man den Nachwuchs durch farbliche Markierung darauf konditionieren muss.

Quelle: Anna Fischer-Dückelmann, Die Frau als Hausärztin, Erstausgabe 1910. Hervorhebungen im Original.

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