... später
Freitag, 29. November 2013
Stillleben mit Kindern
Am 29. Nov 2013 im Topic 'Tiefseetauchen'
Ab und an helfe ich meiner Erinnerung an meine Kindheit und Jugend gern ein bisschen auf die Sprünge, indem ich mir die alten Fotoalben ansehe, die meine Mutter in sorgfältiger Kleinarbeit über Jahre für mich angelegt hat. Meine Schwester hat auch so eine Serie, und die Tradition starb erst dann, als ich in das Alter kam, dass ich das selbst machen konnte und auch einen eigenen Fotoapparat besaß. Sie starb, weil ich nie den Nerv hatte, mich hinzusetzen und noch mal zu rekapitulieren, welche Fotos genau an welchem Ort entstanden waren, hübsche Sätzchen dazu zu schreiben und mir die dicken Alben dann ins Regal zu stellen. Für meine ersten paar allein bestrittenen Ferienfreizeiten machte ich das noch, aber dann war das irgendwann vorbei.
Trotzdem sind diese Alben für mich ein wichtiger Fundus, wenn es darum geht, mir die Atmosphäre in Erinnerung zu rufen - in meinem Elternhaus, in unseren Urlauben, zwischen mir und meiner Schwester, zu Familienfesten. Die ersten Bilder haben noch diesen gelblichen Stich, den Fotos aus den Siebzigern aus unerfindlichen Gründen nun einmal haben. Beinahe ist das so, als hätte irgendein findiger Chemiker beschlossen, dass die frühe Kindheit einen warmen, goldenen Schimmer nötig hat - zumindest in der Rückschau. (Heute bastelt man sowas dann auf Instagram künstlich nach.)
Die Gefahr beim Betrachten von Fotos liegt darin, dass man sich an nichts außerhalb dieser Aufnahmen erinnert, aber dafür sofort bestimmte Szenen vor Augen hat, wenn Stichwörter fallen wie "Weihnachtsbaum", "Wohnzimmerteppich", "Autorücksitz", "Gartenteich". Dann ist nicht klar, ob man sich wirklich erinnert oder ob man sich nur das bereits oft betrachtete Foto wieder ins Gedächtnis ruft. Ich habe in der letzten Zeit versucht, mich an die Dinge zu erinnern, die nicht fotografiert wurden. Die Telefonzelle am Ende der Straße zum Beispiel, die immer so nach abgestandenem Zigarettenrauch roch, in der ich Namen und Nummern aus dem Telefonbuch riss und sorgfältig aufhob, in der ich mit klopfendem Herzen den jeweils Angeschwärmten anrief, nur um wortlos aufzulegen, wenn sich jemand meldete.
Aber die Fotos. Gestern hatte ich mal wieder die Alben auf dem Schoß, die sich um die Zeit drehten, in der meine Eltern sich trennten und wieder zusammen-"fanden". Mir fällt immer wieder auf, dass man von außen nicht sieht, was in der Familie vor sich ging. Überhaupt nicht. Es sind Familienfotos, kurzzeitig mal ohne einen Vater. Es fällt aber nicht auf, wenn man es nicht weiß. Als er wieder im Bild ist, posiert er. Groß und langbeinig mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Schnauzbart, mit einer gewissen lässigen Eleganz, die anziehend gewesen wäre, wäre er sich ihrer nicht bewusst gewesen. Er konnte sich aber kaum einfach beiläufig bei irgendetwas fotografieren lassen.
Ich versuche, Distanz zwischen mich und die Bilder zu bringen und sie von außerhalb zu betrachten, was gar nicht so einfach ist. Mir fällt vermutlich auch nur deshalb auf, dass meine Mutter auf den Fotos kaum lacht oder auch nur lächelt, weil ich weiß, dass sie auch sonst kaum lachte. Und dann irgendwann legt sich der Schalter um, und ich sehe die Bilder aus einem anderen Blickwinkel. Natürlich kann ich sie niemals frei von allem Wissen betrachten, das geht nicht.
Aber bislang kamen sie mir ganz normal vor. Jetzt erst wird mir klar, wie steif und tot sie sind. Nicht allein, weil meine Mutter nicht lacht. Man sieht mich und meine Schwester häufig, als seien wir sorgfältig arrangiert. Wir sind die Elemente eines Stilllebens. In den Fotografien ist kein Leben. Ich stehe vor einer alten Lokomotive im Museum, mit geduldig-leerem Blick, bis jemand auf den Auslöser gedrückt hat. Ich hocke unter der noch kahlen Trauerbirke in unserem Vorgarten zu Ostern, dekorativ wie die Tulpen im Beet. Meine Schwester und ich nebeneinander auf der Brücke einer Wassermühle, in Ballerinaschuhen mit weißen Socken und den Sonntagskleidern. Auf der Bergwiese halte ich auf Anweisung meiner Mutter den Kelch einer Feuerlilie, unter dem Weihnachtsbaum das Geschenk in die Kamera, und am Zaun der Pferdewiese hinter unserem Haus weise ich mit der Hand auf das gerade neu geborene Fohlen, das im hohen Gras steht. Dazu die Geburtstagsbilder - in jedem Jahr derselbe Marmorkuchen mit meinem Namen in Smarties-Schrift in der Schokoladenglasur, in jedem Jahr das mit Teelichtern umstellte Frühstücksbrettchen. Auf den Bildern von etlichen Städtetrips stehen meine Schwester und ich steif vor Brunnen in Schlossparks, vor Theaterportalen, Burgtoren, auf Stadtmauern, Meran, Insel Mainau, Würzburg, München, Rothenburg ob der Tauber, Münsterland. Zu Karneval sind wir die Schaufensterpuppen für die von meiner Mutter aufwändig genähten Kostüme.
Ich sehe mir das an und denke auf einmal: "Scheiße! Das ist ein verdammtes Museum!" Komischerweise werde ich nicht traurig. Mir wird übel, speiübel.
Trotzdem sind diese Alben für mich ein wichtiger Fundus, wenn es darum geht, mir die Atmosphäre in Erinnerung zu rufen - in meinem Elternhaus, in unseren Urlauben, zwischen mir und meiner Schwester, zu Familienfesten. Die ersten Bilder haben noch diesen gelblichen Stich, den Fotos aus den Siebzigern aus unerfindlichen Gründen nun einmal haben. Beinahe ist das so, als hätte irgendein findiger Chemiker beschlossen, dass die frühe Kindheit einen warmen, goldenen Schimmer nötig hat - zumindest in der Rückschau. (Heute bastelt man sowas dann auf Instagram künstlich nach.)
Die Gefahr beim Betrachten von Fotos liegt darin, dass man sich an nichts außerhalb dieser Aufnahmen erinnert, aber dafür sofort bestimmte Szenen vor Augen hat, wenn Stichwörter fallen wie "Weihnachtsbaum", "Wohnzimmerteppich", "Autorücksitz", "Gartenteich". Dann ist nicht klar, ob man sich wirklich erinnert oder ob man sich nur das bereits oft betrachtete Foto wieder ins Gedächtnis ruft. Ich habe in der letzten Zeit versucht, mich an die Dinge zu erinnern, die nicht fotografiert wurden. Die Telefonzelle am Ende der Straße zum Beispiel, die immer so nach abgestandenem Zigarettenrauch roch, in der ich Namen und Nummern aus dem Telefonbuch riss und sorgfältig aufhob, in der ich mit klopfendem Herzen den jeweils Angeschwärmten anrief, nur um wortlos aufzulegen, wenn sich jemand meldete.
Aber die Fotos. Gestern hatte ich mal wieder die Alben auf dem Schoß, die sich um die Zeit drehten, in der meine Eltern sich trennten und wieder zusammen-"fanden". Mir fällt immer wieder auf, dass man von außen nicht sieht, was in der Familie vor sich ging. Überhaupt nicht. Es sind Familienfotos, kurzzeitig mal ohne einen Vater. Es fällt aber nicht auf, wenn man es nicht weiß. Als er wieder im Bild ist, posiert er. Groß und langbeinig mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Schnauzbart, mit einer gewissen lässigen Eleganz, die anziehend gewesen wäre, wäre er sich ihrer nicht bewusst gewesen. Er konnte sich aber kaum einfach beiläufig bei irgendetwas fotografieren lassen.
Ich versuche, Distanz zwischen mich und die Bilder zu bringen und sie von außerhalb zu betrachten, was gar nicht so einfach ist. Mir fällt vermutlich auch nur deshalb auf, dass meine Mutter auf den Fotos kaum lacht oder auch nur lächelt, weil ich weiß, dass sie auch sonst kaum lachte. Und dann irgendwann legt sich der Schalter um, und ich sehe die Bilder aus einem anderen Blickwinkel. Natürlich kann ich sie niemals frei von allem Wissen betrachten, das geht nicht.
Aber bislang kamen sie mir ganz normal vor. Jetzt erst wird mir klar, wie steif und tot sie sind. Nicht allein, weil meine Mutter nicht lacht. Man sieht mich und meine Schwester häufig, als seien wir sorgfältig arrangiert. Wir sind die Elemente eines Stilllebens. In den Fotografien ist kein Leben. Ich stehe vor einer alten Lokomotive im Museum, mit geduldig-leerem Blick, bis jemand auf den Auslöser gedrückt hat. Ich hocke unter der noch kahlen Trauerbirke in unserem Vorgarten zu Ostern, dekorativ wie die Tulpen im Beet. Meine Schwester und ich nebeneinander auf der Brücke einer Wassermühle, in Ballerinaschuhen mit weißen Socken und den Sonntagskleidern. Auf der Bergwiese halte ich auf Anweisung meiner Mutter den Kelch einer Feuerlilie, unter dem Weihnachtsbaum das Geschenk in die Kamera, und am Zaun der Pferdewiese hinter unserem Haus weise ich mit der Hand auf das gerade neu geborene Fohlen, das im hohen Gras steht. Dazu die Geburtstagsbilder - in jedem Jahr derselbe Marmorkuchen mit meinem Namen in Smarties-Schrift in der Schokoladenglasur, in jedem Jahr das mit Teelichtern umstellte Frühstücksbrettchen. Auf den Bildern von etlichen Städtetrips stehen meine Schwester und ich steif vor Brunnen in Schlossparks, vor Theaterportalen, Burgtoren, auf Stadtmauern, Meran, Insel Mainau, Würzburg, München, Rothenburg ob der Tauber, Münsterland. Zu Karneval sind wir die Schaufensterpuppen für die von meiner Mutter aufwändig genähten Kostüme.
Ich sehe mir das an und denke auf einmal: "Scheiße! Das ist ein verdammtes Museum!" Komischerweise werde ich nicht traurig. Mir wird übel, speiübel.
... früher