Sturmflut
Donnerstag, 7. November 2013
Wer werde ich sein?
So schnell, wie die Meldung auftauchte, war sie auch wieder vom Tisch. Gewundert hat es mich überhaupt nicht, dass der Herr Friedrich gern die Bewegungsprofile aller deutschen Autofahrer hätte, um mit ihrer Hilfe "Kapitalverbrechen" aufzuklären. Aber als ich das las, griff mir eine eiseskalte Hand ums Herz und es überkam mich ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. In dem Moment wusste ich, wenn er das wirklich will, dann wird er es auch umsetzen. Gegen meinen Willen, gegen den anderer Menschen. Da kann in irgendwelchen Datenschutzvereinbarungen noch so viel drin stehen, das ändert gar nichts.

Ich mache mir in der Hinsicht nicht die geringsten Illusionen. Und ganz ähnlich wie in Sachen NSA bin ich davon überzeugt, dass auch innerdeutsch gemacht werden wird, was gemacht werden kann. Dass sich in diesem Falle die SPD quergestellt hat, bedeutet letztlich nur, dass die Angelegenheit aufgeschoben ist. Wir benötigen lediglich einen ausreichend schwarz gezeichneten Präzedenzfall, ein wirklich übles "Kapitalverbrechen", anhand dessen dann der Bevölkerung das richtige Maß Angst eingejagt werden kann. Das "Supergrundrecht Sicherheit" lässt sich am Besten in den Köpfen der Menschen verankern, wenn man vorher so richtig den Teufel an die Wand malt. Dann ist es auch ganz egal, ob sich die beschriebenen Methoden schließlich tatsächlich zur Fahndung und Ahndung der postulierten "Kapitalverbrechen" verwenden lassen. Man kann zuverlässig damit rechnen, dass die Menschen alles tun wollen, damit es nicht zu schrecklichen, dramatischen Vorfällen kommt. Niemand will sich vorwerfen lassen, schlimme Szenarien ignoriert oder leichtsinnig zur Seite geschoben zu haben. Dann lieber Netz und doppelter Boden. Man kann ja nie wissen.

Der fünfte November ist gerade wieder zwei Tage her, und Freund J. macht uns jedes Jahr unter dem Betreff Remember, remember... wieder darauf aufmerksam, indem er die prächtig treffende Fernsehansprache des "V" aus "V wie Vendetta" zitiert.

"Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Intoleranz und Unterdrückung - wo man einst die Freiheit zu Widersprechen besaß, zu denken und zu reden wie man es für richtig hielt, hat man nun die Zensoren und Überwachungssysteme, die einen zu Konformität zwingen und zur Unterwerfung führen. Wie konnte es dazu kommen? Wer hat Schuld? Nun, sicherlich hat manch einer mehr zu verantworten als andere, und der wird auch zur Rechenschaft gezogen, doch um ehrlich zu sein, wer einen Schuldigen sucht, der muss nur in den Spiegel sehen."

Mir stellt sich die Frage, wer wir sind, genauer, wer ich bin, wenn ich in einem solchen Staat, in einer solchen Welt lebe. Ist es tatsächlich meine Bequemlichkeit, meine Resignation, meine Angst, die mich hindert, den Mund aufzumachen gegen diese Unmenschlichkeiten? Ja, was eigentlich? So schnell schleicht sich der Gedanke ein, es nütze ohnehin nichts, man renne sich sowieso nur den Kopf ein, weil "die da oben" machen, was sie wollen. Muss ich wirklich nur in den Spiegel sehen, um in die Augen der Schuldigen zu blicken? Ich fürchte, so ist es.

Die Idee von totaler Gefahr, totaler Überwachung und totaler Sicherheit saugt sich in unseren Köpfen fest wie ein Parasit. Sie verwandelt uns von selbständigen Menschen in abhängige Kinder, und wir fürchten uns brav. Wir fürchten uns nicht allein vor den heraufbeschworenen Drohungen von außen, personifiziert durch Terroristen, Kriminelle, Kinderschänder, Industriespione, Betrüger, Schlägertypen, Schießwütige und Islamisten. Die wahre Furcht geht noch viel weiter, und ich hasse, was sie mit uns macht. Der Satz "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten!" steht über dieser Furcht wie eine Überschrift. Wir fürchten, nicht rechtschaffen genug zu sein, wir fürchten uns, den Mund aufzumachen, wir fürchten, lächerlich gemacht zu werden, wenn wir protestieren. Wir fürchten uns vor Nonkonformismus und davor, anderen als Feindbild zu dienen. Wir fürchten uns vor noch zu schaffenden Straftatbeständen, gegen die wir unbewusst verstoßen könnten. Wir fürchten uns davor, allein auf weiter Flur zu stehen. Wir fürchten uns davor, geächtet zu werden, Unrecht zu haben, ins Kreuzfeuer zu geraten. Wir fürchten uns davor, die Kälte zu spüren, die außerhalb unserer heilen, sichergeredeten Welt herrscht. Wir fürchten, uns in Frage stellen zu müssen. Wir fürchten um unseren Wohlstand und unsere Geborgenheit.

Sich mitten in diesem Angstgebäude zu befinden ist unverträglich mit Freiheit. Der Gedanke, ein Mensch zu sein, der alles machen, denken, alles sagen kann, ist eine Illusion. Persönlichkeit ist eine Illusion. Freier Wille ist eine Illusion. Wir sind unfrei. Und dennoch ist es so, wie V in seiner Rede sagt: "Auch, wenn man den Schlagstock anstelle eines Gesprächs einsetzen kann, werden Worte ihre Macht behalten!" Das setzt natürlich voraus, dass diese Worte auch jemand ausspricht und sie nicht ertrinken in dieser giftigen Suppe aus Lethargie, Resignation und Angst.

Es wird eine Zeit kommen, in der unsere Regierung das von Herrn Friedrich in den Ring geworfene Verfahren umsetzt. Auch, wenn er diesen Gedanken nicht erschaffen hat, ist es ihm zu verdanken, dass er vielen Menschen nicht absurd, sondern gerechtfertigt erscheint. Wenn er sein rundes Onkelgesicht in die Kamera hält und über Sicherheit schwadroniert, dann sind die Menschen nur zu gern bereit, ihm zu glauben. Komm in Papis Arme, ich pass auf dich auf!

Als nächstes dann wird der Begriff "Kapitalverbrechen" neu definiert - schleichend vielleicht sogar, ohne dass man es so richtig realisiert. Die Gruppe derer, die als potentielle Verbrecher durchgehen, wird sich vergrößern. Die Angst wird sich vergrößern. Auch und vor allem die Angst, irgendwann selbst Opfer einer Definitionswillkür zu werden. So hält man den Mund.

Es ist bei all dem nur konsequent, dass Herrn Snowden kein Asyl in Deutschland gewährt wird. Vordergründig werden geltende Asylgesetze zur Begründung herangezogen, in Wirklichkeit aber geht es um etwas ganz anderes. Die deutsche Regierung will es sich natürlich nicht mit Amerika verscherzen. Wäre man wirklich souverän, dann müsste man nicht so feige sein und um das Wohlwollen anderer betteln, sondern würde deutlich machen, dass man dem anderen nicht mehr wohlwollend gegenübersteht. Deutschland bleibt zum einen immer das Kind, Amerika der große Papa, der belohnt, straft, missbilligt oder fördert. Dahinter steht aber nicht nur die Sorge, man könnte mit einem Mal wirken wie ein undankbares Kind, das das geschenkte Care-Paket bereits fünf Minuten nach dem Auspacken vergessen hat. Ich bin der Überzeugung, dass der deutschen Regierung ganz glasklar ist: Was man am anderen verurteilt, kann man nicht selbst praktizieren. So verkneift man sich, aller Empörung über das abgehörte Kanzler-Handy zum Trotz, allzu scharfen Protest, um nicht mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, wenn man mit den eigenen Bürgern ganz genau dasselbe macht. Gelernt hat man von den Besten. Das mit den Skrupeln kriegen wir auch noch in den Griff.

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