Geschichtsstunde
Am 26. Nov 2011 im Topic 'Tiefseetauchen'
Angeregt von Sabine Bodes "Kriegsenkel" habe ich mich ein wenig auf Spurensuche in die Geschichte begeben. Klar, als Geschichtsstudentin hat man sich vieles schon angeschaut, auch örtliche und Alltagsgeschichte. Aber das alles blieb natürlich trotzdem immer abstrakt und allgemein, die Beschäftigung damit immer doch distanziert und theoretisch, das Erkenntnisinteresse wissenschaftlich.
Es ist etwas anderes, nach den Spuren der eigenen Familie zu suchen und nach der Geschichte des Ortes meiner Kindheit. Das stellte ich schon fest, als ich nach dem Tod meiner Großmutter den Inhalt ihres Wohnzimmerschrankes in die Hände bekam. Vor allem viele, viele Fotos waren dabei, die ich zum Teil noch kannte, zum Teil nicht. Aber auch alte Briefe, Feldpost, Urkunden, Orden, zerfledderte Lebensmittelkarten. Das alte Papier in Händen zu halten hat mich sehr bewegt, und ich habe dann anhand eines kostenlosen Genealogieprogramms versucht, mir einen Überblick über meine eigene Verwandtschaft zu verschaffen, was auch ganz gut gelang. Immerhin, bis zur Generation der Ur-Ur-Großeltern war mir das gelungen.
Wie viel das eigentlich ist angesichts der brutalen Wurzellosigkeit der Vertriebenen, das wurde mir klar, als ich am Donnerstag wieder einmal auf I.s Sofa saß, die mir das Buch von Bode überhaupt erst empfohlen hatte. Ihr sei beim Lesen vieles klar geworden, hatte sie mir erzählt. Ihre beiden Eltern waren als ganz kleine Kinder auf der Flucht und kamen erst nach Kriegsende in diesen Landstrich hier, und so hat auch I. heute kein Gefühl von Heimat, von Verbindung und Geschichte, das sie an diesen Ort bindet. Zwar ist er ihr durchaus ein Zuhause, das aber ist selbstgemacht und nicht ererbt.
Für mich reichte schon ein Minimum an Nachforschungen in der städtischen Bibliothek, die eine recht umfangreiche heimatgeschichtliche Abteilung hat, um auf die Namen und Spuren meiner Vorfahren zu stoßen. Ich warf Münzen in den Zähler des Kopierers, lieh Jahrbücher und blätterte in alten Bildbänden, und da waren sie: Mein Urgroßvater in einer verschwommenen Schwarzweißfotografie vor seiner Schmiede zwischen den Pferden, mit Holzschuhen an den Füßen. Meine Großtante väterlicherseits, die der örtlichen Tageszeitung ein Interview über ihre Erlebnisse bei Kriegsende gegeben hatte und auf dem Zeitungsbild ihren Rotkreuz-Schwestern-Ausweis in die Kamera hält. In einer Ausgabe der Vierteljahresbeilage der Tageszeitung von 1968 die lückenlose Aufstellung der Generationenfolge meines Großvaters, zurückgehend bis in das Jahr 1718.
Ich lebe natürlich in einem überschaubaren Umfeld. Das macht die Sache leichter, die Recherche weniger anstrengend, aber die Literaturlage auch dünner. Immerhin, der hiesige Heimatverein hat sich schon immer sehr engagiert und in seinen Jahrbüchern viele interessante und zum Teil auch persönliche Themen aufgegriffen. Dennoch kommt aber auch hier eine Kriegsamnesie zum Tragen, die das Grausame weitestgehend ausblendet oder zumindest doch sehr stark verzerrt oder wertet.
Ich weiß inzwischen, dass der Ort meiner Kindheit und Jugend eine Nazi-Hochburg war und im Gegensatz zu der Stadt meiner Geburt, in der ich auch jetzt wieder lebe und in der mein Vater aufwuchs, zu Kriegsende einen heftigen Häuserkampf erlebte. Ich weiß, dass in diesem Ort ein NSDAP-Kreisleiter sein Unwesen trieb und mit seiner Gesinnung nicht unbedingt auf taube Ohren stieß. Er pflasterte seinen Hof mit den Grabsteinen des jüdischen Friedhofes, und einmal trieb das Dorf unter seiner Anleitung ein junges Mädchen im Fackelzug durch die Straßen, das sich des "Kontakts mit einem Fremdarbeiter schuldig gemacht" hatte. Zuvor hatte man ihr die Haare geschoren und ihr ein Pappschild umgehängt. Sie kam später ins KZ. Von alledem nichts mitbekommen haben zu wollen, ist in diesem Fall (und bei rund 1800 Einwohnern zur damaligen Zeit) zweifelsfrei eine Schutzbehauptung - vor allem, wenn ich bedenke, wie in diesem Ort heute noch getratscht wird.
Über meine jetzige Heimatstadt las ich in einem Bericht (verfasst um 1958) über die einmarschierenden alliierten Truppen:
"Allenthalben drangen größere und kleinere Trupps abends in die Häuser, begnügten sich hier und da mit Räubereien, machten sich aber auch vielfach seßhaft, besonders dann, wenn sie einige Vorräte an Alkohol aufgestöbert hatten. Dann gab es für die weiblichen Mitglieder der Familie wahrhaftig nichts zu lachen. Sie erlebten die Gewalt der Sieger am unmittelbarsten, und manche ***in denkt nur noch mit Grauen an diese Stunden zurück."
Die, die da kamen, waren keine Russen.
Unabhängig von jeglicher moralischer Wertung schreibt sich - das weiß ich inzwischen - das Erlebte in die Seelen der Beteiligten, und also ist die Geschichte auch meine eigene Geschichte. Wie die ganz persönlichen Geschichten meiner Vorfahren aussehen, das kann ich zum Teil nur noch erraten, zum anderen Teil hindern mich die Animositäten und das Unbehagen im Bezug auf meine Familie daran, unbefangen zu fragen.
Ich möchte mehr wissen, um einordnen zu können, und ich werde bald einmal den Versuch machen, mit der Schwester meiner Mutter zu sprechen, die 1939 geboren wurde. Dennoch bleibe ich natürlich immer abhängig von der Bereitschaft meiner Angehörigen, vor allem über subjektives Erleben und Gefühle zu sprechen. Denn allein um die Fakten geht es mir ja nicht. Auch nicht um Verurteilung und Schuldzuweisung. Sondern um die Muster, die in den Stoff meines eigenen Lebens gewebt wurden.
Übrigens ist mir dieser Tage, da sich die Rechercheergebnisse auch in meine Träume schleichen, angesichts allen "Volkssturms", der "Sturmbannführer" und anderen Stürmereien schon beinahe zu viel Sturm in meinem Namen...
Es ist etwas anderes, nach den Spuren der eigenen Familie zu suchen und nach der Geschichte des Ortes meiner Kindheit. Das stellte ich schon fest, als ich nach dem Tod meiner Großmutter den Inhalt ihres Wohnzimmerschrankes in die Hände bekam. Vor allem viele, viele Fotos waren dabei, die ich zum Teil noch kannte, zum Teil nicht. Aber auch alte Briefe, Feldpost, Urkunden, Orden, zerfledderte Lebensmittelkarten. Das alte Papier in Händen zu halten hat mich sehr bewegt, und ich habe dann anhand eines kostenlosen Genealogieprogramms versucht, mir einen Überblick über meine eigene Verwandtschaft zu verschaffen, was auch ganz gut gelang. Immerhin, bis zur Generation der Ur-Ur-Großeltern war mir das gelungen.
Wie viel das eigentlich ist angesichts der brutalen Wurzellosigkeit der Vertriebenen, das wurde mir klar, als ich am Donnerstag wieder einmal auf I.s Sofa saß, die mir das Buch von Bode überhaupt erst empfohlen hatte. Ihr sei beim Lesen vieles klar geworden, hatte sie mir erzählt. Ihre beiden Eltern waren als ganz kleine Kinder auf der Flucht und kamen erst nach Kriegsende in diesen Landstrich hier, und so hat auch I. heute kein Gefühl von Heimat, von Verbindung und Geschichte, das sie an diesen Ort bindet. Zwar ist er ihr durchaus ein Zuhause, das aber ist selbstgemacht und nicht ererbt.
Für mich reichte schon ein Minimum an Nachforschungen in der städtischen Bibliothek, die eine recht umfangreiche heimatgeschichtliche Abteilung hat, um auf die Namen und Spuren meiner Vorfahren zu stoßen. Ich warf Münzen in den Zähler des Kopierers, lieh Jahrbücher und blätterte in alten Bildbänden, und da waren sie: Mein Urgroßvater in einer verschwommenen Schwarzweißfotografie vor seiner Schmiede zwischen den Pferden, mit Holzschuhen an den Füßen. Meine Großtante väterlicherseits, die der örtlichen Tageszeitung ein Interview über ihre Erlebnisse bei Kriegsende gegeben hatte und auf dem Zeitungsbild ihren Rotkreuz-Schwestern-Ausweis in die Kamera hält. In einer Ausgabe der Vierteljahresbeilage der Tageszeitung von 1968 die lückenlose Aufstellung der Generationenfolge meines Großvaters, zurückgehend bis in das Jahr 1718.
Ich lebe natürlich in einem überschaubaren Umfeld. Das macht die Sache leichter, die Recherche weniger anstrengend, aber die Literaturlage auch dünner. Immerhin, der hiesige Heimatverein hat sich schon immer sehr engagiert und in seinen Jahrbüchern viele interessante und zum Teil auch persönliche Themen aufgegriffen. Dennoch kommt aber auch hier eine Kriegsamnesie zum Tragen, die das Grausame weitestgehend ausblendet oder zumindest doch sehr stark verzerrt oder wertet.
Ich weiß inzwischen, dass der Ort meiner Kindheit und Jugend eine Nazi-Hochburg war und im Gegensatz zu der Stadt meiner Geburt, in der ich auch jetzt wieder lebe und in der mein Vater aufwuchs, zu Kriegsende einen heftigen Häuserkampf erlebte. Ich weiß, dass in diesem Ort ein NSDAP-Kreisleiter sein Unwesen trieb und mit seiner Gesinnung nicht unbedingt auf taube Ohren stieß. Er pflasterte seinen Hof mit den Grabsteinen des jüdischen Friedhofes, und einmal trieb das Dorf unter seiner Anleitung ein junges Mädchen im Fackelzug durch die Straßen, das sich des "Kontakts mit einem Fremdarbeiter schuldig gemacht" hatte. Zuvor hatte man ihr die Haare geschoren und ihr ein Pappschild umgehängt. Sie kam später ins KZ. Von alledem nichts mitbekommen haben zu wollen, ist in diesem Fall (und bei rund 1800 Einwohnern zur damaligen Zeit) zweifelsfrei eine Schutzbehauptung - vor allem, wenn ich bedenke, wie in diesem Ort heute noch getratscht wird.
Über meine jetzige Heimatstadt las ich in einem Bericht (verfasst um 1958) über die einmarschierenden alliierten Truppen:
"Allenthalben drangen größere und kleinere Trupps abends in die Häuser, begnügten sich hier und da mit Räubereien, machten sich aber auch vielfach seßhaft, besonders dann, wenn sie einige Vorräte an Alkohol aufgestöbert hatten. Dann gab es für die weiblichen Mitglieder der Familie wahrhaftig nichts zu lachen. Sie erlebten die Gewalt der Sieger am unmittelbarsten, und manche ***in denkt nur noch mit Grauen an diese Stunden zurück."
Die, die da kamen, waren keine Russen.
Unabhängig von jeglicher moralischer Wertung schreibt sich - das weiß ich inzwischen - das Erlebte in die Seelen der Beteiligten, und also ist die Geschichte auch meine eigene Geschichte. Wie die ganz persönlichen Geschichten meiner Vorfahren aussehen, das kann ich zum Teil nur noch erraten, zum anderen Teil hindern mich die Animositäten und das Unbehagen im Bezug auf meine Familie daran, unbefangen zu fragen.
Ich möchte mehr wissen, um einordnen zu können, und ich werde bald einmal den Versuch machen, mit der Schwester meiner Mutter zu sprechen, die 1939 geboren wurde. Dennoch bleibe ich natürlich immer abhängig von der Bereitschaft meiner Angehörigen, vor allem über subjektives Erleben und Gefühle zu sprechen. Denn allein um die Fakten geht es mir ja nicht. Auch nicht um Verurteilung und Schuldzuweisung. Sondern um die Muster, die in den Stoff meines eigenen Lebens gewebt wurden.
Übrigens ist mir dieser Tage, da sich die Rechercheergebnisse auch in meine Träume schleichen, angesichts allen "Volkssturms", der "Sturmbannführer" und anderen Stürmereien schon beinahe zu viel Sturm in meinem Namen...