Sturmflut
Begegnung mit Alfons Mucha
Mein erster Tag in Prag beginnt mit einer Solo-Tour. Während viele der anderen Busreisenden in Richtung polnische Grenze unterwegs sind (darunter auch der Gatte und die Freunde), habe ich die Möglichkeit, zu tun, wonach mir gerade der Sinn steht. Ich weiß, die Genannten können nicht allzu viel mit bildender Kunst anfangen, und mit dem Jugendstil schon mal gar nicht, also nehme ich mir die Zeit und besuche das Mucha-Museum.

Es liegt nicht weitab vom Wenzelsplatz in der Panská 7, einer eher unscheinbaren, schmalen Straße. Da es allerdings erst um zehn Uhr öffnet, schlage ich mir die verbleibenden paar Minuten mit dem Versuch um die Ohren, mein Handy-Guthaben aufzuladen (vergeblich, und sowas macht man auch vorher) und nachzuschauen, ob das Angebot bei H&M in Tschechien anders ist als anderswo, allerdings ohne ernsthafte Kaufabsicht, mehr aus Neugier. Ist es übrigens nicht.

Um zehn betrete ich dann den Kaunický palác, entrichte den Eintritt von 180 Kronen und schlendere in die Ausstellungsräume. Das Parkett knirscht unter den Sohlen, weitestgehend herrscht Stille, und außer mir sind noch nicht viele Menschen da.

Ich habe Zeit, und die braucht man auch. Werke von Mucha werden (und vor allem auch verstärkt in Prag) mit ziemlich überzogener, verschwenderisch-bunter Farbgebung als Reproduktionen allenthalben zum Verkauf angeboten, aber hier stehe ich inmitten einer sehr sortierten, klar wirkenden Ausstellung. Ich muss mich gewissermaßen erst einmal etwas verlangsamen und schauen. Ganz in Ruhe.

Ich stehe vor den langformatigen "Vier Tageszeiten" und lasse die allegorischen Frauengestalten auf mich wirken. Dabei faszinieren mich die beiden Bilder des Morgens und Tages weniger als der Abend und vor allem die "Nachtruhe". Allein, wie der Mond im Hintergrund die vor ihm stehenden, eigentlich massiven Bäume durchdringt und allem eine milde Transparenz verleiht, ist bemerkenswert. Die Frauengestalt im Vordergrund schläft, weniger hingegossen und weit weniger dynamisch als ihre Genossinnen. Sämtliche Reproduktionen, die ich von dem Bild gesehen habe, geben nicht auch nur annähernd die gedämpfte Farbe wieder.

Von Geradlinigkeit kann man nun bei Alfons Mucha beileibe nicht sprechen. Aber ich finde es wahnsinnig interessant, wie grafisch seine späteren Werke bereits sind. Als ich vor den Plakaten stehe, die er für die Schauspielerin Sarah Bernhardt entwarf, sehe ich das sehr deutlich. Die Figuren umrahmt er mit einem kräftigen, schwarzen Umriss, was ihnen beinahe etwas comichaftes verleiht und was ich bestechend modern finde. Es mildert das ausufernde, florale Element in seinen Grafiken, ohne dass das hart wirkt. Es wundert mich nicht, dass er ebenfalls Werbeplakate für Produkte wie Zigarettenpapier, Sekt und Fahrräder schuf.

Spannend wird es vor einer Vitrine, in der Studien und Skizzen zu sehen sind, die er anfertigte. Das Festhalten der gesammelten Eindrücke, das Ausprobieren macht den Künstler irgendwie menschlich. Natürlich kann man staunend vor einem fertigen Meisterwerk stehen, es in seiner Komplexität und Durchdachtheit bewundern und es auf sich wirken lassen. Aber diese Werke kommen nicht von allein in die Welt. Vorher fotografierte, skizzierte und korrigierte Mucha auch, so wie es vermutlich alle Künstler tun. Schade ist nur, dass man von solchen Prozessen allgemein so wenig sieht. Die Probedrucke, das Vorläufige, das Einfangen einer Idee sind doch besonders spannend, weil man beim Wachstum zusieht. Deshalb ist es schön, dass das Museum neben den Werken auch Atelierfotos, ganz frühe Zeichnungen und sogar ein Skizzenbuch Muchas zeigt, bei dessen Betrachtung nicht sehr viel Fantasie nötig ist, um es sich in den Händen dieses Mannes vorzustellen.

Gegenüber der Vitrine mit den Skizzen sind Plakate zu sehen, die nach seiner Rückkehr in die Tschechoslowakei entstanden. Sie haben eine patriotische, folkloristische Note und gefallen mir sehr. Ganz besonders fesselt mich der Blick eines kleinen Schulmädchens auf dem Plakat für eine Lotterie zugunsten mährischer Schulen. Im Unterschied zu all den ätherischen Frauengestalten sieht sie beinahe trotzig aus, ihre zwei rötlichen Zöpfe sind in Auflösung begriffen, mit der rechten Hand umklammert sie Griffel und Stifte, mit der linken Buch und Heft. Keine Spur mehr von Überschwang und Blumenregen, und dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) zum Heulen schön. Von ihrem Anblick konnte ich mich lange nicht losreißen.

Dass aus der Hand Alfons Muchas nicht nur die berühmten Jugendstil-Grafiken stammen, sondern auch Gemälde, war mir zwar bekannt, aber letztere waren mir lange nicht so sehr im Gedächtnis geblieben. Eines beeindruckt mich allerdings nachhaltig. Es hängt im letzten der Ausstellungsräume, großformatig und nicht zuletzt deshalb so überwältigend. Es trägt den Titel "Frau in der Wildnis" und zeigt eine im Schnee sitzende Frau, die das Gesicht gen Himmel richtet, die offenen Hände liegen im Schnee, ihre Beine sind lang ausgestreckt, den Rucksack trägt sie noch auf dem Rücken. Über ihr glänzt ein einzelner Stern am Himmel, umgeben von einem strahlenden Halo. Hinter der Kuppe sieht man die schwarzen Silhouetten und leuchtenden Augen dreier Wölfe, die warten.

Die Faszination, die das Gemälde auf mich ausgeübt hat, ist schwer zu beschreiben. Seine Leuchtkraft erschließt sich nur im Original, alle Fotos, die ich davon gesehen habe, wirken wie verschleiert (und oft sieht man nicht einmal die Wölfe). Ich bleibe auch hier wieder sehr lange stehen, bis mich eine große Gruppe von Japanern mit Audio-Guides in den Ohren plus eifrig redendem Gruppenführer davonwäscht. Ich warte, bis sie wieder gehen und bleibe dann nochmals stehen, gefesselt wie vorher von dem Schulmädchen.

Das Museum ist nicht sehr groß, aber das muss es auch nicht sein. Wenn man verweilt, liest, schaut, auf sich wirken lässt, erreichen einen genügend Eindrücke. Die Atelierfotos und persönlichen Gegenstände Muchas tun ein Übriges und ergänzen das Bild. In vielerlei Hinsicht.

Der Museumsshop, in einigen kleinen Räumen nah am Eingang untergebracht, hält die übliche Palette an muchabezogenen Souvenirs bereit. T-Shirts, Kalender, Postkarten, Tagebücher, Schlüsselanhänger, Poster und Pins kann man hier käuflich erwerben. Es wirkt grell auf mich angesichts dessen, was ich gerade erlebt und gesehen habe, und so verzichte ich auf große Einkäufe und erstehe nur zwei Postkarten, die die "Nachtruhe" und das Plakat für die Lotterie zeigen.

Die "Frau in der Wildnis" war nicht vertreten. Ich weiß bis heute nicht, ob ich das bedauern oder begrüßen soll. Das Bild, das man in sich trägt, hat die Eigenschaft, langsam zu verblassen, während alles Fassbare lediglich ein Abklatsch bleiben muss.