Sturmflut
Reproduktionsdruck
Eine Mitschülerin aus meiner Niederländisch-Klasse, geschätzt vielleicht Mitte vierzig, besucht mich neulich überraschend zu hause. Da stellt sie dann irgendwann auch die Frage, ob mein Mann und ich Kinder hätten. Sobald ich diese Frage wie gehabt mit "nein" beantworte, bekommt ihr Blick etwas leicht Mitleidiges, also schiebe ich direkt hinterher, dass wir keine wollen. Der Tonfall des Schweigens wechselt von betreten zu massiv unangenehm.

Ich hasse es, deswegen dauernd in der Rechtfertigungsecke zu stehen. Plötzlich ist mein Alter wichtig. Ich bin 37. "Da musst du dich dann auch ranhalten, wenn du noch welche willst!", sagt sie. Und ich möchte schreien. Ich! Will! Keine! Kinder! Verdammt noch mal! Aber ich tue es nicht, denn ich bin ja sozialverträglich und nett und druckse lieber herum, dass das ja nicht bedeute, dass ich kinderfeindlich sei, aber dass ich eben nie den Wunsch danach verspürt habe. Ich bin eine feige Sau. Ich sollte deutlicher werden, aber ich lasse es.

"Kann ja noch kommen. Eine Freundin von mir hat mit Anfang vierzig plötzlich...!" Ich bin nicht deutlich genug.

Es ist ein ganz blödes Gefühl, immer wieder so nachdrücklich vor Augen geführt zu bekommen, dass man sich außerhalb der gesellschaftlichen Norm bewegt. Dabei ist offen geäußerte Ablehnung oder gar Hass eher die Ausnahme. Grundsätzlich herrscht eher diese leicht skeptische Haltung vor, ob man als Frau mit funktionierenden Reproduktionsorganen und im fruchtbaren Alter wohl ganz richtig im Kopf sei, wenn man sich nicht vermehrt. Einfach so akzeptieren können viele diese Haltung nicht. Da wird einem dann mal kurzerhand ein Psychoknacks angedichtet, die eigenen Eltern betrauern ihre nie geboren werdenden Enkel. Freiwillig kinderlosen Frauen spricht man die eigene Entscheidungsfähigkeit ab, weil sie ja garantiert nur dem Mann nachplappern, mit dem sie zusammen sind. Ihnen wird unterstellt, ihre weibliche Identität zu verleugnen, weil die nun einmal das Muttersein mit einschließe.

Dergleichen Vorurteile wabern durch den Raum, und bei aller Kritik, die an klassischen Familienkonstellationen auch öffentlich geäußert wird, gilt es dennoch nach wie vor spürbar als "normal", dass sich Frauen Kinder zu wünschen haben. Wenn eine Frau keine Kinder hat, dann lässt sich das mit allem möglichen entschuldigen: nicht zu können, nicht den "richtigen" Mann gefunden zu haben, erst eine Ausbildung abzuschließen, die finanzielle Belastung zu scheuen, keine Betreuungsmöglichkeiten zu haben - womit auch immer. Aber nicht damit, nicht zu wollen. Argumentiert wird, der Kinderwunsch sei doch ganz natürlich. Es wird der Trugschluss bemüht, dass das, was natürlich ist, auch gut sei, und das für alle Menschen gleichermaßen. (Wobei - mit Verlaub - auch überhaupt erst einmal definiert gehört, was insbesondere im psychischen Bereich natürlich zu bedeuten haben soll.)

Den Blödsinn bin ich wirklich Leid. Sobald ich sage, ich will nicht, werde ich nicht mehr für voll genommen. Das hängt mir zum Hals heraus. Ich bin keine Rahel, die mit großen, feuchten Kulleraugen ihren Mann ansieht und sagt: "Schaffe mir Kinder, wo nicht, so sterbe ich!" Schnell ist gesagt, dass sich Kinderlose vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung drücken, aber ich sehe es genau umgekehrt. Bewusst keine Kinder zu bekommen zeugt von Verantwortung. Der Druck, der gesellschaftlich in dieser Sache ausgeübt wird, ist nicht zu unterschätzen. Menschen, die dennoch nicht klein beigeben und die Reproduktion allen blöden Unkenrufen zum Trotz verweigern, die entscheiden sich bei vollem Verstand. Es wäre wahrlich keine gute Grundlage für eine Entscheidung, sagte man: "Das machen aber alle so!"

Ich kann gut damit leben, dass man mir mitunter das Wort verbietet, wenn es in Diskussionen um Kindererziehung und Elternschaft geht. Ich habe verstanden, dass Menschen der Meinung sein können, die Tatsache, dass ich meine Gebärmutter niemals benutzt habe und benutzen werde, disqualifiziere mich in diesen Fragen. Schließlich habe ich meine Meinung zu diesen Dingen lediglich aus einer Geisteshaltung heraus entwickelt, nicht aufgrund der Erfahrung, schon mal Mutter gewesen zu sein. Das ist natürlich ein Totschlagargument. Ich kann dann die Beine hochlegen und mir die Hand vor den Mund halten beim Gähnen, weil dieses Argument so ausgelutscht ist, und weil ich weiß, dass sich weitere Diskussionen ohnehin erübrigen, weil es gar nicht um Austausch geht. So weit, so gut.

Pampig werde ich, wenn sich jemand anderes die Deutungshoheit über mein Leben oder meinen Charakter anmaßt, nur weil ich mich entschieden habe, keine Kinder zu bekommen. Fehlerhaft, egoistisch, ein Sozialschmarotzer, ein karrieregeiles Mannweib, eine Neurotikerin, keine richtige Frau - das sind ja nur ein paar der Etiketten, die man auf die Stirn gepappt bekommt.

Ich genieße mein Leben so, wie es ist. Ich wüsste nicht, warum Kinder in meinem Leben eine Rolle spielen sollten. Es mag sein, das eigene Kinder etwas Wunderbares sein können, aber es gibt keinen zwingenden Grund, warum sie das für alle Menschen gleichermaßen sein sollten. Es mag sein, dass eine Frau über die Potenz verfügt, zu gebären, aber wir sind zum Glück aus den Zeiten heraus, in denen es zwangsläufig irgendwann dazu kommen muss. Ich gebe zu, ich genieße meine Freiheit. Ich genieße es, kein Kindergeschrei um mich herum zu haben. Ich genieße es, dass nicht dauernd jemand etwas von mir will. Ich genieße es, Raum zur Verfügung zu haben, der von niemandem okkupiert werden kann, wenn ich es nicht will. Ich genieße es, nicht die enorme Verantwortung zu tragen, die Kindererziehung bedeutet. Ich breche nicht in "Oh, wie süß!"-Schwärmereien aus, wenn man mir einen Säugling vor die Nase hält, auch wenn ich dem Umgang mit Kindern durchaus etwas abgewinnen kann (und sie übrigens auch dem Umgang mit mir).

Mein Leben ist ausreichend reich, und mein Leben ist ausreichend kompliziert. Ich muss es nicht komplettieren, vervollständigen, es gibt keine Löcher zu stopfen, keine Defizite zu füllen, Kinder fehlen mir nicht. Ich besitze keinen Muttertrieb - aber auch das lässt sich wieder nur als Defizit formulieren, als etwas, das mir abgeht. Das ist nicht so. Ich fühle mich frei. Deswegen mag ich auch die englische Bezeichnung childfree, die die ganze Angelegenheit der Kinderlosigkeit endlich einmal so formuliert, dass nicht ein Mangel im Vordergrund steht. Würde man aber sagen, dass man kinderfrei sei, dann wäre einem der Shitstorm hierzulande sicher.

Ich bin froh, dass es in meinem Freundeskreis viele kinderfreie Menschen gibt, sie sind zahlreicher als die Eltern. Das bedeutet nicht, dass ich ein Problem mit Kindern oder mit Eltern generell habe (und es ist auch ätzend, das wieder extra betonen zu müssen). Es ist einfach angenehm, Mitmenschen zu haben, denen gegenüber man sich eben nicht erklären muss. Sie sind selbst zu einer ähnlichen Entscheidung gelangt und erwarten daher keine Rechtfertigung, sondern sie verstehen. Akzeptanz ist das Gegenteil von Vorverurteilung und das einzig wirksame Mittel dagegen. Ebenfalls ist es angenehm, Menschen zu kennen, in deren Gegenwart man Eltern kritisieren kann, ohne dass das sofort einem Affront gleichkommt, weil sich Leute mit Kindern davon auf den Schlips getreten fühlen. Es tut gut, in einer Atmosphäre zu diskutieren, in der einem eben nicht die Erlaubnis entzogen wird, sich über das Verhalten von Eltern und ihren manchmal wirklich unmöglich erzogenen Kindern zu äußern, nur weil man selbst keine Kinder großzieht.

Diese Freunde sehen mich nicht als hartherziges, verkniffenes, karrieregeiles und sozial unfähiges Biest. Sie machen den Charakter nicht fest an der Reproduktionsquote. Und sie kommen auch nicht mit solch blöden Sätzen. "Ja, ja, wart nur ab, du wirst dir irgendwann auch noch mal wünschen, Kinder gekriegt zu haben!"

Wäre ich allein mit meiner Entscheidung zur Kinderlosigkeit, dann wäre die Lage ganz entspannt. Aber leider ist es so sehr Norm, in meinem Alter Kinder zu haben oder voller Panik die biologische Uhr ticken zu hören, dass ich mich immer wieder daran reiben muss. Das fängt bei solchen Gesprächen wie dem mit meiner Mitschülerin an und hört leider bei politischen Debatten um die finanzielle Mehrbelastung der Kinderlosen nicht auf. Man stößt sich den Kopf auf an so platten Parolen wie "Kinder sind unsere Zukunft!", weil einem damit unterstellt wird, kein Interesse an der Zukunft zu haben. Das geht so weit, dass auch mir manchmal der Arsch auf Grundeis geht. Nicht etwa, weil ich tatsächlich an meiner Entscheidung gegen eigene Kinder zweifle. Ich fühle mich rundum wohl mit ihr und weiß, dass es so für mich passt. Das Problem ist, dass man gesellschaftlichen Druck nicht ignorieren kann. "Die Gesellschaft" als solche ist natürlich ein reichlich diffuser Begriff, aber das macht die Kategorisierung in "normal" und "unnormal" nicht weniger spürbar. Man braucht bisweilen schon ein recht kräftiges Kreuz, um mit der Tatsache umzugehen, dass man als unnormal gilt. Da bleiben manchmal Gelassenheit und Souveränität auf der Strecke, und das nicht etwa zum Schaden der anderen, sondern immer zum eigenen.

Die Normen über Bord zu werfen und einfach zu leben, wie man es selbst will und für richtig hält, ist ein hehres Ziel, das man der Ressentiments anderer wegen nicht über Bord werfen sollte. Ich würde mir nur wünschen, dass diese ermüdende Mühle mal stillstünde und die Notwendigkeit entfiele, in dieser Angelegenheit immer bloß der herrschenden Meinung die Stirn zu bieten.