Sturmflut
Sonntag, 20. März 2011
Grenzen
Meine Schwägerin ist ein Goldschatz. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Ich habe sie sehr gern, ihre fröhliche und offene Art ist ansteckend, sie ist kreativ und wir können gut miteinander reden. Sie strahlt viel Herzenswärme aus. Ich vertraue ihr und sie vertraut mir. Wir haben einen ähnlichen Geschmack und viele gemeinsame Interessen. Im Gegensatz zu vielen anderen Müttern, die ich kenne, ist sie weder trutschig noch langweilig noch dreht sich alles immer nur um ihre Kinder. Wir gehen auch gern mal zusammen auf Konzerte oder Lesungen, wenn es die Zeit zulässt. Es würde mir ein wichtiger Mensch fehlen, wenn es sie nicht gäbe.

Aber es gibt ein Problem. Als wir gestern eingeladen waren, um die Kinder noch nachträglich zum Geburtstag zu beschenken, traf ich ihr Haus in einem erschreckenden Zustand an. Sie war schon immer der eher planlose Typ. Sie vergisst gern Verabredungen und Termine, und dass prinzipiell immer Kindersocken, Spielzeug und angebissene Brote herumliegen, bin ich ja gewöhnt. Irgendwie war das auch noch ansatzweise verständlich, bei drei Sprösslingen im Alter von acht, sechs und zweieinhalb Jahren. Da stolpert man schon mal über was. Klinisch rein finde ich ehrlich gesagt auch fürchterlich. Das ist es bei mir selbst eher selten. Ich gehöre nicht zu den Sagrotanisten, die hinter jeder Ecke Keime lauern sehen und permanent mit Fusselnentfernen und Händewaschen beschäftigt sind. Aber bei ihr wird es immer schlimmer mit der Unordnung und dem Dreck. Ihr riesiger, neurotischer Irish Setter, der hin und wieder aus seinem Zwinger in die Wohnung gelassen wird, tut ein Übriges. Ihrer Planlosigkeit war es wohl auch geschuldet, dass sie gestern, als wir knapp zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit bei ihr eintrafen, noch am Staubsaugen war. Dann flitzte sie hektisch ins Wohnzimmer und breitete eine von den Kindern zertobte Decke über die fleckige Sitzfläche des Sofas. Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis sie uns Gesellschaft leistete, während wir versuchten, die Zeit mit dem müde aussehenden Herrn Schwager zu verplaudern. Der saß in seinem (vielleicht schon tagelang getragenen) Mark-Lanegan-Band-Shirt nachmittags um vier mit einer Flasche Bier auf dem Küchenstuhl, und irgendwie kam die Unterhaltung nicht so recht in Gang. Erst, als die Kinder von draußen reinkamen, wurde es lockerer (und auch lauter).

Ich mache mir Gedanken. Über allem scheint bei den beiden ein klebriger Grauschleier zu liegen. Ich mag nichts anfassen und von keinem Teller essen, und ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll. Das Laminat knirschte trotz Staubsaugen vom Sand. Das Bücherregal über dem Esstisch ist seit Monaten abgeräumt, weil sich an der Außenwand hinter den Büchern Schimmel gebildet hatte, der jetzt auf der Wand graue Blüten treibt. Statt der Bücher liegen dort jetzt andere Dinge herum, und die Kisten mit den Büchern stehen in der Diele. Schimmel auch unter den Vorhangstangen an den Fensterstöcken - an den Wänden ist mehr Grau als hellgelb gestrichene Rauhfaser. Die Heizungen haben keine Thermostate, es ist immer zu kalt oder zu heiß. Beim Versuch, mich an der Fensterbank anzulehnen in Ermangelung von Stühlen habe ich mich beinahe in einen vergessenen Teller gesetzt, auf dem noch eine mit Gurke bespießte Gabel lag. Von wann, das weiß ich nicht. Fußleisten fehlen ganz, am Durchgang zur Küche haben die Kinder schon vor einer halben Ewigkeit die Tapete heruntergerissen und an die Wand gemalt.

Manche Dinge sind zweifelsohne ästhetische Probleme, und da legt offenbar meine Schwägerin andere Maßstäbe an als ich. Damit kann ich leben und mich freuen, wenn ich in meinen eigenen vier Wänden bin, in denen wie gesagt auch nicht immer alles gerade steht. Aber ich überlege jetzt, ob ich sie überhaupt noch zuhause besuchen möchte. Ab und an schauten wir auch gemeinsam Filme oder kochten, aber ich mag in diesem Haushalt inzwischen weder die Schuhe ausziehen noch Küchengeräte benutzen. Die Kleidung, die ich gestern trug, ist schon wieder gewaschen, weil ich sie als erstes abgelegt habe, als ich nach hause kam. Meine Schwiegermutter hat, so weit ich das weiß, ihr gelegentliches hilfreiches Putzen im Haushalt ihres jüngeren Sohns auch eingestellt. Naja, und dann ist da noch der kleine, zweieinhalbjährige Neurodermitiker, der gestern ausdauernd über das Laminat auf den Knien unter den Esstisch ins Halbdunkel rutschte, um seinen Spielzeugbus wiederzuholen - der sich schwärzlich von der Wand schälenden Tapete entgegen... Der Herr Schwager scheint indessen regelrecht zu fliehen, mal in Richtung Arbeit, mal in Richtung Whiskey. Es dreht sich mir nicht nur der Magen um, sondern auch das Herz.

Was tun? Ich bin ratlos und weiß nicht, ob ich offen mit ihr über dieses Problem reden kann, ohne sie zu beleidigen oder zu ihrer Überforderung beizutragen. Ich habe das schon einmal erlebt in einer Freundschaft, und nach dem dritten mal gut gemeintem, gummibehandschuhten Aufräumen-Helfen stieß ich damals an meine Grenzen. Auch heute bin ich kurz davor. Ich kann sie doch nicht immer nur zu mir einladen... Vielleicht sollte ich mal mit Schwiegermama reden?

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