Sturmflut
Sonntag, 10. April 2011
Das alte Haus
Lange Zeit lag es verborgen hinter seinem verrosteten, schmiedeeisernen Zaun und einem dichten Urwald aus alten Bäumen, wilden Schlingplanzen und Brennesseln.



Das alte Haus ist eine Villa mitten in der Stadt, über die sich die Erbengemeinschaft lange Zeit nicht einig wurde, und das sah man dem armen Haus auch an. Eigentlich ist es eine absolute Schönheit. Aber inzwischen haben darin Obdachlose geschlafen und Ziellose ihr Bier getrunken.



Randalierer haben die Fenster eingeschlagen, die die Besitzer notdürftig wieder vernagelten und in die sich das Efeu rankt. Es hat darin gebrannt, dass die Flammen aus dem Dach loderten, und inzwischen hat es kein Dach mehr. Den windschiefen Zaun versperrt ein Fahrradschloss, das Dach decken nun flatternde blaue Planen.



Ich fand immer, dass es aussah wie ein Gespensterhaus, wie es da mitten in all dem Gestrüpp stand. Die Fensterhöhlen wirkten düster wie leere Augen und das prachtvolle Schnitzwerk sah aus, als ob es beim nächsten kleinen Seufzer des Windes herunterstürzen würde.



Zu gern hätte ich mal hineingeschaut, aber selbst wenn das möglich gewesen wäre, hätte ich es auch mit einem gewissen Gruseln getan. Immer aber habe ich insgeheim gehofft, dass niemand auf die Idee kommt, das Haus abzureißen und das teure Stadtgrundstück zu verhökern.



Eines Tages rückten Bagger an und entfernten das Gestrüpp und einige alte Bäume, und plötzlich stand das Haus im Licht. Die Pflanzen hatten verschleiert, wie mitgenommen es eigentlich war, aber auch seine Schönheit verborgen. Jemand hat die Villa gekauft, um sie zu einem Firmensitz zu machen. Das wird sie entzaubern, aber hoffentlich wird die sorgsame Hand der fachkundigen Renovierer dem alten Haus zu neuem Glanz verhelfen. Ich wünsche es ihm, denn dieses Haus hat schon beinahe eine Seele, und irgendwie hat es bessere Zeiten verdient.

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