Sturmflut
Freitag, 3. August 2012
Ganz schön hoch, das Ross.
Der "Zeit" liegt regelmäßig das evangelische Magazin "chrismon" bei, das bei uns, wie viele andere Beilagen auch, lediglich kurz überblättert wird und dann meistens im Altpapier landet. Ich warf heute einen Blick in die gestrige Ausgabe und stieß auf einen Artikel in der Rubrik "im vertrauen", der mir nun doch ein paar Worte mehr wert ist als üblich.

Eine distinguiert wirkende Dame im roten Leinenblazer schaut in die Kamera, randlose Brille, gepflegter Kurzhaarschnitt, um den Hals ein Collier. Darunter die Bildunterschrift: "Was ist eigentlich Stress? Die Theologin Susanne Breit-Keßler antwortet auf Fragen, die uns bewegen." Klingt ja eigentlich recht vielversprechend. Auch wenn ich weiß, dass keine medizinische Definition des Begriffes "Stress" folgen wird, sondern vermutlich eher eine philosophisch-theologische Abhandlung. Schließlich halte ich hier "chrismon" in den Händen.

Was folgt, ist aber weder das eine noch das andere. Frau Breit-Keßler beginnt den kurzen Artikel mit den Worten "Ich haste an einem Nagelstudio vorbei." Sie hastet. So etwas kommt mal vor, aber diese Aussage wird sich angesichts des gehässigen Charakters des Artikels als vielsagend erweisen. Breit-Keßler schildert nämlich im Anschluss, was sie als an diesem Nagelstudio Vorbeihastende alles so in Kürze auffängt: Eine Frau lackiert der anderen die Nägel. Die Kundin beschwert sich über all den Stress, den sie hat. Und Breit-Keßler zieht aus diesem kurzen Einblick in das Leben anderer ihre ganz eigenen Schlüsse.

Die lauten in der Summe etwa so: Sie unterstellt, weder Kundin noch Nail Artiste hätten wirklichen Stress, sondern gehörten zu dem Typ Frauen, die Partys und Prosecco-Trinken für Stress hielten und den Friseurbesuch ihrer Hündchen und das Schneiden ihrer Rosen. Luxusweibchen also in den Augen der Verfasserin, die im Grunde überhaupt kein Recht hätten, sich zu beschweren. Und sie fügt wie beiläufig noch hinzu, dass sie selbst ohnehin ihre Nägel immer praktisch kurz halte.

Im selben Atemzug mit dieser Brachial(vor)verurteilung schreibt die Theologin:

"Man darf eigentlich nicht von außen beurteilen, wie andere Belastungen erleben, was ihnen zu viel wird und was nicht. Welcher Maßstab könnte der richtige sein? Nicht jeder, jede kann gleich viel leisten - warum auch? Talente, Kraft und Energie sind unterschiedlich verteilt, manchmal in einer einzigen Person."

Stimmt ganz genau, Frau Breit-Keßler. Aber warum tun Sie es dann? Und zugleich auch noch mit einer solchen Abscheu vor den Menschen, die nicht in Ihr Schema der Welt, wie sie sein müsste, passen?

Das Urteil, das sie selbst hier zunächst scheinbar so klar ablehnt, fällt Breit-Keßler dann doch. Es ist offensichtlich ein bestimmter Typus Mensch, der ihr gegen den Strich geht. Es sind diejenigen Frauen, die viel Freizeit haben, die auf der Suche sind nach etwas, das ihre innere Leere füllt und die diese Suche als Stress empfinden. Diese Empfindung stellt die Verfasserin als grundsätzlich verkehrt in Frage. Sie urteilt eben doch von außen, kategorisiert in richtigen und falschen Stress. Sie teilt ein in fleißige, gute Menschen, die es sich verdient haben, sich auch einmal um sich selbst zu kümmern, und in solche, die ihre Privilegien nicht zu erkennen vermögen und deshalb vollkommen zu Unrecht vor sich hin jammern und deren Sorge um sich selbst der reine Egoismus ist. So einfach ist ihre Welt.

Wen sie als diese Bessermenschen, ja sogar als "Engel" auffasst, listet sie sorgfältig auf. "Ich denke an Frauen im Polizeidienst, Frauen, die als Erzieherinnen in Kindertagesstätten oder als Mütter zuhause arbeiten, die sich in der Gastronomie oder als Verkäuferinnen die Beine in den Bauch stehen. Mir fallen die ein, die im Krankenhaus tätig sind - Schwestern, Ärztinnen, Seelsorgerinnen. Rufbereitschaft auch in Zeiten, in denen sie gerade mal mit Freunden zusammensitzen. (...) Vor solchem Einsatz habe ich höchsten Respekt."

Selbstverständlich verdienen all diese Menschen den Respekt auch. Nicht nur den von Frau Breit-Keßler, sondern unseren. Was sie aber besonders heraushebt, so Breit-Keßler, sei, dass sie sich nicht beklagten. Dann sei natürlich auch nichts dagegen einzuwenden, dass sie sich die Nägel feuerrot lackierten und gern Prosecco tränken.

Selten habe ich in wenigen Sätzen ein derart haarsträubendes Maß an Arroganz verzeichnet. Frau Breit-Keßler kann in der Tat, wie sie selbst ja auch richtig festgestellt hat, nichts wissen über den Stress der Menschen und die Berechtigung ihrer Klagen. Sie kann den Menschen im Vorbeigehen an der offenen Türe des Nagelstudios oder während belangloser Plaudereien nicht hinter die Stirne und schon gar nicht in die Seele schauen. Aber obwohl sie eigentlich um diese Unfähigkeit weiß, maßt sie sich an, die Frauen, die ihr begegnen, einzuteilen in Engel und verwöhnte Zicken. Mit welchem Recht tut sie das eigentlich? Sie besitzt keine Kenntnis der Persönlichkeiten, die ihr da begegnen. Sie weiß nicht, was die Dame erlebt hat, die sich am Ende eines Tages im Nagelstudio ihre Nägel machen lässt, sie hat keine Ahnung, wie groß deren äußerer oder innerer Stress nun tatsächlich war und was sie eigentlich so gestresst hat. Vielleicht hat die Kundin einen aufreibenden Bürojob, vielleicht hat sie aber auch einfach einen traurigen Tag. Vielleicht war es aber auch ein Tag in einer endlosen Folge von Tagen, an denen die Nagelstudio-Kundin mit Unzufriedenheit, innerer Leere, Schmerzen, Schuldgefühlen oder anderen seelischen Problemen zu kämpfen hatte. Anhand einer Äußerlichkeit beurteilen zu wollen, welches Recht ein Mensch hat, Stress zu empfinden, ist über die Maßen arrogant.

Für Breit-Keßler gibt es augenscheinlich den guten, ehrlichen und echten Stress, der dem aufgesetzten, vorgespiegelten Stress der French-Nails-Fraktion diametral entgegensteht. So fragt sie denn auch am Ende ihres Artikels die Leserin: "Sind sie auch so eine Frau? Eine, die nicht lange fackelt, sondern alles macht, was anderen dient?" Dieses Verhalten ist in ihren Augen offenbar die einzige Legitimation dafür, auch einmal etwas für sich zu tun. Immer noch geistert das Bild der selbstlosen, aufopferungsvollen Engels-Frau durch die Weltgeschichte. Noch immer ist eine Person mit diesen Eigenschaften das anzustrebende Ideal, der man getrost auf die Schulter klopfen und zugestehen kann, die "...Flügel ruhig einmal hängen zu lassen..." (Breit-Keßler). "Solche Frauen richten ihr Augenmerk auf die Bedürfnisse anderer. Sie haben nicht den Nerv, mit Stress zu kokettieren." Alles, was von diesem Ideal abweicht, verdient die Auszeit für sich selbst anscheinend nicht.

Weder interessiert sie das unbekannte Innenleben derer Frauen, die sie da so heftig verurteilt, noch die offensichtlichen Schwierigkeiten, die auch diejenigen Menschen haben können, die nicht in denen von ihr genannten Engel-Berufen tätig sind. Mit ätzender Ironie schreibt sie: "Wahrscheinlich bin ich ungerecht, ich habe keine Ahnung davon, wie mühsam es ist, French Manicure zu machen oder pinkfarbenen Lack mit Strass zu verzieren." Ich möchte gegen dieses Klischee setzen, was ich wahrnehme, wenn ich draußen am Nagelstudio vorbeigehe: Ich rieche bis vor die Tür den beißenden Geruch von Aceton und Lösungsmitteln, und im Inneren des fensterlosen Ladens weiß ich ständigen feinen Hornstaub, gegen den auch ein papierner Mundschutz sicher nicht immer hilft. Vom Lohn der zierlichen Asiatinnen, die dort arbeiten, wage ich mal gar nicht zu sprechen. Der Tunnelblick Breit-Keßlers auf die Welt, wie sie sich ihr darstellt, blendet ganz bewusst aus, was nicht in ihre Kategorien von guten und schlechten Menschen passt.

"Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet" steht in dem Buch, auf das sich auch Breit-Keßler in ihrer Eigenschaft als Theologin wohl häufig beziehen dürfte. Natürlich ist keiner gefeit vor Vorurteil, das würde ich auch von mir nicht behaupten. Ich habe auch nicht allzu viel übrig für bestimmte Typen und habe mich schon manches mal aufgeregt über Damen, die bestimmten Klischees wie Abziehbildchen entsprachen. Ich hege bisweilen heftige Abneigungen und inzwischen nicht mehr den Anspruch, jeden Menschen gleichermaßen mögen zu wollen. Ich denke, solche Gefühle sind Teil unseres Menschseins.

Allerdings bin ich der Ansicht, dass man genau dieses Menschsein anderen auch zuerkennen sollte. Da hapert's gewaltig bei Breit-Keßler. Sie postuliert zwischen den Zeilen ihres Artikelchens: Das Recht, sich gestresst zu fühlen und darunter zu leiden muss man sich nach bestimmten Maßstäben verdienen. Darüber hinaus zeichnen sich diejenigen besonders aus, die sich aufopfern und nicht klagen. Welcher Gruppe sie sich selbst zurechnet, hat sie ja schon mit dem Eingangssatz ihres Artikels verdeutlicht: "Ich haste an einem Nagelstudio vorbei." Sie hastet, während andere sich dreist das Recht herausnehmen, zu schlendern und ganz egoistisch etwas für sich selbst zu tun.

Sicher gibt es viele, die sich beim Lesen von Breit-Keßlers Zeilen wiederfinden. Für die die Welt auch besteht aus rechtschaffenen, herzensguten Menschen, zu denen sie sich selbst zählen, und verwöhnten Tussis mit Luxusproblemchen, denen man mal kurzerhand jegliche echte menschliche Regung absprechen darf. Mir dreht sich bei solcher Herablassung gewaltig der Magen um.

Dass ausgerechnet diese Dame auch ein Buch über "Burn Out" verfasst hat, wundert mich eigentlich nicht. Man möchte bloß hoffen, dass sie in diesem Werk Erschöpfte nicht auch so rigoros einteilt in Jammerer und wirklich Gestresste wie in ihrem "chrismon"-Artikel. Der Satz "Reiß dich mal zusammen, eigentlich hast du es doch gut!" hat schließlich schon so manchen in abgrundtiefe Verzweiflung getrieben. Breit-Keßler sollte sich dem wirklich schwierigen Part eines christlichen Nächstenliebe-Anspruchs stellen und erst einmal damit anfangen, ihr Mitgefühl auf diejenigen auszudehnen, die ihr selbst eben nicht ähnlich sind.

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